Macht Technik glücklich?
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/17
Technologische Innovationen sind beim Marketing rund um ERP-Systeme eine feste Grösse. Aus einer schier nimmerversiegenden Quelle ergiessen sie sich über Entscheider und Anwender. Glaubte man den Marketingaussagen, müsste man meinen, dass allein der Besitz der neuesten Technologie zum geschäftlichen Erfolg führt. Für Entscheider und Investoren ist das ein schwieriges Terrain: Welche Rolle spielt Technik tatsächlich für die erfolgreiche Einführung und den Betrieb eines ERP-Systems?
Betrachtet man die Technologietrends des Jahres 2006, verschlägt es manchmal selbst dem Marktexperten den Atem: So viele neue und anwendbare Technologien wie derzeit gab es seit Jahren nicht mehr.
Zu nennen sind hier beispielsweise Innovationen und Trends wie die Modularisierung und Integration von Programmen auf Basis von EAI häufig mit den Begriffen SOA oder ESA als Business-Strategie gebündelt mit dem schrittweisen Zusammenwachsen von Informatik und Telekommunikation und der resultierenden Mobilität von ERP-Anwendungen sowie
dem Zusammenwachsen von Office-Oberfläche und ERP (siehe Seite 37).
All dies führt zu einem wahren Quantensprung, wie man ihn seit dem Wechsel von alphanummerischen auf grafische Oberflächen nicht mehr erlebt hat. Anders als etwa beim E-Business handelt es sich dabei allerdings nicht um eine Scheininnovation die aktuelle Innovation verändert die Arbeitsplätze aller Anwender und birgt damit langfristig umsetzbare und nachhaltige Effizienzsteigerungspotentiale auf der gesamten operativen Prozessebene.
Trendsetter der Innovation ist SAP, das nach langen Jahren der Zurückhaltung im Technologiebereich nun wieder konsequent investiert. Schlagwort ist hier die neue EAI-Basis Netweaver. Allerdings ist bei SAP anders als bei vielen anderen Anbietern Technologie nie ganz Selbstzweck, sondern wird konsequent mit Businessnutzen verknüpft. Wie hier langfristig der Erfolg aussehen wird, kann SAP wegen seiner grossen Kundenbasis sicher aufzeigen.
Zweiter Trendsetter ist Microsoft. Die Redmonder treten einerseits als Anbieter von Basistechnologien wie auch als ERP-Anbieter auf. Von der breiten Entwicklungsinitiative rund um .NET, Share-Point-Server oder Microsoft Snap profitieren nicht nur die ERP-Systeme aus dem eigenen Hause, sondern auch andere, insbesondere kleinere Anbieter. Diese können mit vergleichsweise wenig Ballast konsequent auf neue Technologien setzen.
Ein brandaktuelles Beispiel aus der Schweiz sind die in der Presse viel zu wenig beachteten Textilhandels-Experten von Medeas. Der Horgener Anbieter hat seine mit mehreren Hundert Installationen fest etablierte Lösung in den letzten Jahren konsequent auf .NET umgebaut. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und kann selbst dem einen oder anderen Konkurrenten noch gute Anregungen geben.
Aber nicht nur Medeas, auch zahlreiche andere Anbieter haben sich nach langen Jahren der Kos-metik dazu aufgemacht, ihre teils etwas verstaubten Systeme auf Vordermann zu bringen und von Grund auf zu renovieren.
Damit stellt sich die Frage, ob hier nicht einfach alter Wein in neuen Schläuchen abgefüllt wird. Betrachtet man den Java-Boom am Markt, bei dem eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Anbietern mit dem Slogan «100% Java-basiert» durch die Lande ziehen, kommt schnell Ernüchterung auf. Häufig kann man die veralteten Oberflächen aus RPG-Zeiten mehr als nur erahnen. Man hat auf neue Technologien umstellt, die echte Innovation jedoch vergessen.
Oft wird hier mit Technologie und vorschneller Argumentation rund um Flexibilität die Tatsache kaschiert, dass die Systeme im funktionalen Bereich häufig schon lange nicht mehr konkurrenzfähig sind. Ein weiterer Wermutstropfen: Viele der Javajaner sind fehleranfällig und enthalten Bugs. Grund sind hier das fehlende Business- und Kontextwissen der häufig eingesetzten Offshore-Programmierer. Es rentiert sich gerade hier, einmal nachzufragen, wie die Umsetzung des Alt-Codes in die neue Sprache vonstatten ging.
Eine besondere Gruppe bilden die wenigen Newcomer auf dem ERP-Markt: Sie versuchen sich durch den Einsatz modernster Technologie zuvorderst am Markt zu positionieren. Dass die technologische Basis jüngeren Datums ist als bei den etablierten Mitbewerbern, ist dabei nicht von der Hand zu weisen.
Dennoch: Mit Technologie allein wird man nicht glücklich. Eine umfassende Funktionalität ist Voraussetzung für ein erfolgreiches Projekt – es sei denn, man möchte statt einer Standardsoftware-Einführung ein Individual-Programmierungsprojekt umsetzen.
Ein gutes Beispiel ist das Schlagwort «RFID». Schnell wird mit dem Marketingargument «RFID-kompatibel» geworben, ohne dass die notwendigen Funktionen in den Bereichen Logistik und Produktion vorhanden wären, die den Einsatz einer solch exklusiven Technologie überhaupt rechtfertigen könnten.
Zur Bewertung von Newcomern gibt es aber einen einfachen Lackmus-Test: Neueinsteiger ohne klare Branchenfokussierung sind unglaubwürdig und werden mittelfristig immer zu Problemen führen. Die Schweiz stellte hier in der Vergangenheit einen der prominentesten Business-Cases: der Fehlschlag «Miracle» ist letztlich mit der einseitigen Fokussierung auf innovative Technologien und das Fehlen einer klaren Branchenfokussierung zurückzuführen.
Systeme, die auf modernen Technologien aufbauen, sind flexibler als die häufig despektierlich als Elefanten oder Tankschiffe titulierten etablierten Anbieter. Flexibilität ist dabei ein Faktor, der für viele Anwendungsunternehmen zu einer kritischen Grösse geworden ist: Ist das eingesetzte ERP-System flexibel genug, um eine neue Unternehmensstrategie der Geschäftsführung auf der Prozessebene umzusetzen und zu stützen?
Solche und ähnliche Fragen sind in vielen Unternehmen an der Tagesordnung und dominieren das häufig nicht ganz ungetrübte Verhältnis zwischen IT-Verantwortlichem und Unternehmensleitung.
Dennoch: Flexibilität kann auch schaden. Eine der am weitesten verbreiteten Unsitten ist die «Programmieren-statt-Denken»-Mentalität einiger Anbieter. Wenn das eigene System so flexibel ist, dass man es ja in jedem Fall schnell und einfach programmieren kann, muss man sich ja nicht die Mühe machen und eine gute konzeptionelle Lösung erarbeiten.
Flexibilität steht auch in einem direkten Konflikt mit Integration – quasi dem zweiten Wunsch vieler Anwenderunternehmen. Doch Integration bedeutet, dass das System ein Rückgrat benötigt, das zwar beweglich, aber nicht bis zur Unkenntlichkeit flexibel sein sollte.
Wie ist nun der Aspekt «innovative Technologie» bei einem ERP-System zu bewerten? Grundsätzlich muss man festhalten, dass technologische Innovation sicher nicht die dominierende Grösse für den ERP-Erfolg ist. Die ERP-Zufriedenheitsstudie zeigt immer wieder, dass Systeme mit Technologien aus den 80er Jahren noch immer treu ihren Dienst verrichten. Die Anwender sind zufrieden und freuen sich über die häufig günstigen Betriebskosten. Natürlich ist mitunter auch das Gegenteil der Fall, indem veraltete Technologien Prozesse zementieren.
Damit wird klar: Bei ERP dreht sich letztendlich fast alles um Prozesse und Funktionen. Diese müssen im Vordergrund stehen. Moderne und innovative Technologien sind nicht Ziel, sondern Mittel respektive «Enabler». Damit wird auch klar, wie man Technologien beurteilen muss, nämlich stets in ihrer Relation zu den Prozessen. Ist ein Anbieter nicht in der Lage, den Nutzen einer Technologie in klarem Bezug zu konkreten Funktionen und Prozessen zu erläutern, sondern wartet nur mit Allgemeinplätzen wie beispielsweise den Total Costs of Ownership auf, kann man die jeweilige Technologie schlicht vergessen.
Dr. Eric Scherer ist Geschäftsführer des anbieterunabhängigen Beratungs- und Marktforschungs-unternehmens i2s. Er gilt als einer der führenden ERP-Experten und ist Initiator der ERP-Zufrieden-heitsstudie.
scherer@i2s-consulting.com