Der Preis der verletzten Privatheit
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/02
Die Schweizerischen Bundesbahnen sparen. Nicht nur beim Fahrzeugunterhalt, auch beim Zugsbegleitpersonal. Der Vandalismus nimmt markant zu. Also installieren die SBB wachsame elektronische Augen. Videoaufzeichnungen sollen die Zugsbegleiterinnen und -begleiter ersetzen. Die Folge: Vandalenakte nehmen ebenso markant wieder ab.
Kriminelles Verhalten wird aufgezeichnet und auswertbar. Das ermöglicht, potentielle Vandalen zur Rechenschaft zu ziehen oder sie ganz von Schandtaten abzuhalten. Videoüberwachung als billige Lösung des Gewalt- oder Vandalismusproblems?
Ja - billig aber nur deshalb, weil man bei dieser Art von Überwachung nicht die vollen Kosten bezahlen muss. Es ist billiger, durch technische Überwachung die Privatheit der mitüberwachten "anständigen" Zugspassagiere systematisch zu verletzen, als sie mit dem Einsatz von Zugsbegleitpersonal zu achten. Der Preis für die Verletzung der Privatsphäre ist (zu) gering.
Das Bundesgericht rechnet es uns vor: Es hatte kürzlich über die Höhe der Genugtuung an ein zuvor unbescholtenes Ehepaar zu befinden, das in einem anonymen Schreiben beschuldigt wurde, Mitglied der Al-Qaïda zu sein. Die Frau wurde deshalb vom Arbeitsplatz weg verhaftet. Anschliessend nahmen die Beamten im Beisein der 9-jährigen Tochter den Ehemann fest. Zusätzlich wurden der Fernmeldeverkehr überwacht und Informatikmittel ausgewertet. Die Ermittlungen ergaben jedoch keine stichhaltigen Hinweise darauf, dass die anonym erhobenen Vorwürfe wahr sein könnten. Das Verfahren wurde nach fünf Monaten eingestellt.
Den Eheleuten, die sich während des gesamten Verfahrens verständnisvoll und kooperativ verhielten, wurde vom Bundesgericht für Hafterstehung und Persönlichkeitsverletzung je 1000 Franken an Genugtuung zugesprochen. Man rechne - auch wenn es eine Milchbüchleinrechnung ist: Die Verletzung von Privatheit kostet nicht mehr als 500 Franken.
Nur 500 Franken? Privatheit ist viel mehr wert. Sie schützt die Freiheit und Autonomie jedes Einzelnen und ist damit Existenzvoraussetzung für eine auf Selbstverantwortung bauende Gesellschaft und für den auf demokratische Mitwirkung angewiesenen Staat. Für 500 Franken bekommt man eine "neue" Privatsphäre aber nicht einmal auf dem Gebrauchtwarenmarkt. Ist die Privatheit einmal weg, ist sie nicht so einfach zu ersetzen.
Müsste bei Massnahmen wie bei der Videoüberwachung die beiläufig systematisch verletzte Privatheit aller mitüberwachten Nicht-Vandalen zum wirklichen Wert entschädigt werden, dann wären solche Massnahmen wohl nicht mehr so schnell als Allerweltsheilmittel zur Hand. Wirklich überlegen werden sich die Überwacher diese Fragen deshalb wohl erst, wenn die Gerichte den Schritt zur Anerkennung des wirklichen Werts von Privatheit bei der Bestimmung des Preises ihrer Verletzung geschafft haben. Wenn sie also den Schritt ins Informationszeitalter machen.