Services via Prozessportal
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/07
Globalisierung, Verschiebung der Kostenstrukturen, Kundenzentrierung und überbetriebliche Kooperationen erfordern neue Geschäftsmodelle und vor allem Aktionsfähigkeit. Die Kunden erwarten individuelle Lösungen für ihre spezifischen Probleme anstatt standardisierte Produkte –und zwar genau dann und an jenem Ort, an dem ihr Bedarf entsteht. Sie erwarten, dass sich der Lieferant ihrem Kundenprozess, also den Aktivitäten zur individuellen Problemlösung, unterordnet.
Für die Unternehmen bedeutet dies, ihren Kunden alles abzunehmen, was deren Prozesse belastet, und jederzeit und an jedem Ort genau den Kundenbedürfnissen entsprechende Leistungen zu erbringen.
ABB Turbo Systems, ein Unternehmen der ABB Gruppe, ist Weltmarktführer bei Abgasturboladern für Diesel- und Gasmotoren im Leistungsbereich oberhalb 500 Kilowatt. Über 180'000 ABB Turbolader sind weltweit auf Schiffen, in Kraftwerken, Lokomotiven sowie schweren Baustellen- und Minenfahrzeugen im Einsatz. Etwa die Hälfte des Umsatzes erzielt ABB Turbo Systems aus dem Verkauf von Abgasturboladern, die andere Hälfte durch Services für diese Geräte. Kunden für diese Services sind beispielsweise die Reedereien. Da diese mit der Wartung der Turbolader möglichst wenig zu tun haben wollen und der Ausfall der Schiffe aufgrund von Wartungsarbeiten einen entscheidenden Kostenfaktor darstellt, nehmen weltweit über 70 Service-Stationen von ABB Turbo Systems dem Schiffseigner den Wartungsprozess ab und garantieren im Havariefall eine Abwicklung binnen 48 Stunden, unabhängig vom Standort des Schiffes.
Die Kunden aus Sicht der Zentrale von ABB Turbo Systems sind die Servicestationen in 44 Ländern mit ihrem Prozess «Wartung von Turboladern». Über das Portal ATURB@WEB liefert ihnen die Zentrale die benötigte Unterstützung. ATURB@WEB besteht aus mehreren integrierten Modulen und greift über den Internet Transaction Server (ITS) beziehungsweise dessen Nachfolgeprodukt Web Application Server von SAP auf das zentrale SAP-R/3-ERP-System sowie weitere Datenbanken mit Benutzerhandbüchern, Zeichnungen und Produktinformationen zu. Die Module umfassen einen zentralen Kundendatenstamm, Detailinformationen zu jedem Turbolader, eine Ersatzteil- und Wartungsberichte-Verwaltung, die weltweiten Service-Stationen, einen Wartungsplaner sowie Module zur Bestellung von Ersatzteilen und neuen Turboladern.
Im Falle auftretender Probleme an einem Turbolader oder bekannter Anlauftermine eines Hafens mit einer Service-Station kann über das Portal die schiffsspezifische Konfiguration des Turboladers inklusive aller Modifikationen aus früheren Wartungen abgerufen werden. Dadurch kann der Servicemitarbeiter notwendige Ersatzteile ermitteln und über das Portal direkt bestellen. Da die Produkte von ABB Turbo Systems auf eine Betriebsdauer von bis zu zwanzig Jahren ausgelegt sind, besteht eine besondere Herausforderung darin, das derzeit aktuelle Ersatzteil für nicht mehr produzierte Bauteile und Baugruppen zu finden.
Hohen Nutzen schafft ein Wartungsplaner, der sogenannte «Maintenance Scheduler». Das Modul stellt anhand von Ampeln den aktuellen Wartungsstand für jeden einzelnen Turbolader dar. Verkaufs- und Servicemitarbeiter nutzen diese Information, um Kunden auf günstige Zeitpunkte zur proaktiven Wartung ihrer Turbolader aufmerksam zu machen oder bei Verstreichen von Wartungszeitpunkten auf den Kunden zuzugehen und das Wartungsgeschäft zu besprechen.
Neben internen Datenquellen bindet ABB Turbo Systems auch externe Services wie beispielsweise die Versicherungsdatenbank des Schiffsversicherers Lloyds ein. Diese Datenbank erlaubt anhand der Versicherungsnummern die eindeutige Identifizierung der Schiffe auch bei Namensänderungen infolge von Eignerwechseln.
Ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Implementierung von ATURB@WEB ist für Roland Bossy, Head of IS-Organisation der ABB Turbo Systems, die evolutionäre Systementwicklung in mehreren Projektphasen. Seit 1989 arbeitet ABB Turbo Systems an einer integrierten Datenbanklösung zur Unterstützung des weltweiten Servicegeschäfts. Je nach Anforderung und technischen Möglichkeiten wurde das System um zusätzliche Module erweitert und, wenn nötig, auf neue technische Plattformen und Systemarchitekturen umgestellt. Zwingende Voraussetzung für ein derartiges Vorgehen sind ein systematisches Projektmanagement und ein einheitlich angewandtes Middleware-Applikationskonzept.
ATURB@WEB unterstützt die Servicestationen. In den durchgeführten Umfragen nach den wertvollsten Informationen aus der Zentrale belegt das Prozessportal regelmässig den ersten Platz. Darüber hinaus konnten die Ersatzteillagerbestände der einzelnen Servicestationen durch die schnellere Abfrage und Koordination um insgesamt 12 Prozent gesenkt werden. Die dadurch erzielte Verringerung des gebundenen Kapitals entspricht einer jährlichen Einsparung von rund einer Million Franken Zinskosten.
Prozessportale wie ATURB@WEB haben ein hohes Potenzial zur Unterstützung des Kundenprozesses. Einmal entwickelt, verursacht eine zusätzliche Leistung wie die Verfolgung des Wartungsstandes eines weiteren Turboladers nur sehr geringe Kosten.
Die Errichtung eines Prozessportals erfordert vorab die Konsolidierung der zu unterstützenden Prozesse, was in vielen Fällen zu einer deutlichen Komplexitätsreduktion durch Eliminierung unnötiger Sonderfälle führt.
Auch Endress+Hauser, ein international tätiger Schweizer Anbieter von Messgeräten und Automatisierungslösungen für die industrielle Verfahrenstechnik, schafft durch sein Prozessportal W@M Mehrwert für seine Kunden. Die elektronische Bereitstellung von Informationen vereinfacht beispielsweise den Betrieb der Anlage, da der Kunde alle Informationen an einem Ort aktuell und auf Knopfdruck zur Verfügung hat. Endress+Hauser verzeichnet jährlich 370'000 Downloads von technischen Dokumenten, 95 Prozent davon durch Kunden.
W@M ermöglicht ein umfassendes Asset Management in allen Phasen des Lebenszyklus einer Anlage. In der Planungsphase unterstützt der «Endress+Hauser Applicator» die Auswahl der benötigten Mess- und Steuergeräte. Hierzu gibt der Kunde die Anwendungsparameter wie beispielsweise Füllstand oder Betriebstemperatur an oder lädt die entsprechenden Daten auf XML-Basis direkt aus seinem Computer Aided Engineering (CAE)-System. Der Applicator schlägt auf Basis dieser Eingaben in Frage kommende Geräte vor. Die gewählten Produkte können über den E-Shop direkt bestellt werden, ebenso Ersatzteile, Verbrauchsmaterialien oder Dienstleistungen wie etwa die Kalibrierung eines Messgeräts.
Alle Daten werden dabei automatisch im sogenannten Common Equipment Record (CER), dem zentralen Datenbestand, abgelegt. Endress+Hauser unterstützt die Beschaffung seiner Kunden jedoch nicht nur durch einen E-Shop, sondern stellt seinen Produktkatalog auch in digitalen Standardformaten wie BMEcat oder Requisit zur Verfügung, damit die Kunden diese in ihre eigenen Procurement-Systeme integrieren können.
W@M wurde auf Basis von SAP Enterprise Portal 6.0 realisiert. Die Nutzer werden mittels des auf LDAP (Lightweight Directory Access Protocol) basierenden eDirectory von Novell verwaltet. Common Equipment Record und die Download Area für Dokumente basieren auf einem SAP-PLM-System und einer IBM-DB2-Datenbank, während der E-Shop SAP CRM nutzt. Die Eigenentwicklungen «Spare Finder Tool» und «Applicator» sind Java-basiert.
Trotz vorhandener Informationen und Applikationen musste Endress+Hauser mehrere hundert Manntage für die Stammdatenharmonisierung, die Zentralisierung der technischen Dokumente sowie die Zuordnung passender Ersatzteile zu den Produkten aufwenden. Im Gegenzug konnten jedoch Kosteneinsparungen durch den Wegfall des Postversands der elektronisch verfügbaren Dokumente von bis zu drei Millionen Euro pro Jahr erzielt werden.
Beiden Unternehmen ist es gelungen, durch ihre Prozessportale Kosteneinsparungen zu realisieren. Vor allem aber ist es gelungen, Zusatznutzen für die Kunden zu schaffen und damit die Kundenbindung zu erhöhen. Die IT bleibt erster Treiber innovativer Geschäftsmodelle.
Entwicklungen wie RFID, Embedded Systems oder Mobility bieten Potential zur Unterstützung aktueller Prozesse und zu neuen Service-Leistungen. Entscheidendes Kriterium wird aber die Flexibilität in der Prozessgestaltung sein. Die Agilität, das heisst die Fähigkeit, neue Geschäftsmodelle schneller als die Konkurrenz umzusetzen, entscheidet über den Geschäftserfolg von morgen. An diesem Punkt setzt die in Teilbereichen bereits Realität gewordene Vision Service-orientierter Architekturen (SOA) an. Service-Orientierung macht Unternehmen netzwerkfähiger. Sie vereinfacht die Kopplung von Kernprozessen mit den Prozessen anderer –eigener oder fremder –Geschäftseinheiten.
Service-Orientierung aus geschäftlicher Sicht bedeutet, dass Aufgaben oder Teilprozesse, die an verschiedenen Stellen gebraucht werden, an einer einzigen Stelle gelöst werden. Aus technischer Sicht bedeutet dieser Ansatz, Gleichteile in Applikationen zu identifizieren und diese zentral bereitzustellen. Dadurch reduziert Service-Orientierung die Komplexität der Applikationslandschaft und schafft gleichzeitig Flexibilität in der Umsetzung des Geschäftsmodells.
Hubert Österle ist Professor und Enrico Senger ist Projektleiter am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen.