Was in der Gerüchteküche schon länger vor sich hinbrodelte, ist jetzt offiziell. Google bringt ein eigenes Betriebssystem. Laut Eigendeklaration wird das Google Chrome OS zwar voll und ganz auf Netbooks zugeschnitten und im wesentlichen nichts anderes sein als ein Linux-Kernel mit minimalster Oberfläche – gerade genug «OS», damit darauf der Browser und in demselben allerlei Webanwendungen laufen können. Beides hat Google mit Chrome, Docs&Spreadsheets, GMail und demnächst Wave schon zur Genüge im Portefeuille.
Das Interessanteste an Google Chrome OS ist aber nicht die Software – es wird sie ja erst «in der zweiten Hälfte 2010» geben, und abgesehen von den allerallgemeinsten Konzepten weiss wohl nicht einmal Google selbst, wie sein neustes Kind genau aussehen wird. Interessant ist vielmehr die Aufruhr, die seit der Ankündigung sowohl in den IT-Medien als auch in der Tagespresse herrscht. Da war die Rede von einer «Atombombe gegen Microsoft», von einem «Neuen Independence Day am 7. Juli» – gemeint ist die Unabhängigkeit von Microsoft, die dank der hehren Bemühungen von Google auf die Menschheit niederkommen soll.
Chrome OS und Google Apps als vernichtende Konkurrenz zu Windows und Office – so sehen es manche Kommentatoren. In der Realität wird Microsoft wohl weniger zu leiden haben als in den Köpfen der aufgestachelten Anti-Redmond-Blogger, und zwar aus diversen Gründen. Erstens erreichen die aktuell verfügbaren Webanwendungen selten die Qualität von ausgewachsener, nativer Desktop-Software, so dass die wenigsten Anwender das Bewährte gegen etwas zwar irgendwie Aufregendes, aber erst halbbatzig Brauchbares austauschen möchten – selbst wenn die Wenigsten mit Windows und Office wirklich voll und ganz zufrieden sind.
Zweitens haben sich schon bisher die für stabile Webanwendungen nötigen Standards nur zögerlich und je nach Browser in unterschiedlichen Nuancen durchgesetzt – wieso soll dies mit dem kommenden HTML 5 und CSS3 anders verlaufen? Das Chaos der Webstandards und ihrer Implementationen und die resultierenden Missliebigkeiten bei der Nutzung von Webapps werden wegen Chrome OS nicht aufhören.
Drittens scheint auch die Kostenfrage für die Adoption von Betriebssystemen und Anwendungssoftware eher zweitrangig: Gratis-Linux gibt es seit Ewigkeiten, Gratis-Linux mit brauchbarer Oberfläche seit Jahren, und trotzdem konnte sich das freie Betriebssystem bei den PC-Anwendern mit Ausnahme einiger Technikfreaks bisher keineswegs durchsetzen. Ganz abgesehen davon: Open-Source-Windows wird kaum kommen, aber wer hindert Microsoft daran, die Netbook-Edition von Windows 7 ebenfalls kostenlos abzugeben?
Viertens plant auch Microsoft eine webbasierte Edition seiner Office-Suite. Es ist kaum anzunehmen, dass diese ergonomisch so schlecht und funktional so eingeschränkt daherkommen wird wie die bisher verfügbaren Online-Offices. Wobei natürlich auch Google die Chance hat, bis zum Erscheinen von Chrome OS seine Applikationssuite noch gehörig aufzupolieren.
So schlecht steht Microsoft im Krieg der Systeme also nicht da. Google Chrome OS dürfte sich wohl kaum als Atombombe erweisen, eher vielleicht als Handgranate. Auch diese darf Microsoft nicht auf die leichte Schulter nehmen – aber gegen Handgranaten gibt es allerlei Vorsichts-, Abwehr- und Reparaturmassnahmen, die bei der Bedrohung durch eine Atombombe zwecklos wären.
(ubi)