«Wir sind noch weit entfernt vom richtigen Metaverse»
Quelle: BBV

«Wir sind noch weit entfernt vom richtigen Metaverse»

Welche IT-Trends kommen mittelfristig auf Schweizer KMU zu? Und warum findet man das Metaverse noch nicht im aktuellen Technica Radar? Wir haben bei den Mitautoren Patrick Labud und Marco Ravicini nachgefragt.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2022/12

     

Patrick Labud und Marco Ravicini haben in ihrer Karriere viele IT-Trends kommen und gehen sehen. Im Interview zum Technica Radar 2023 erzählen uns die beiden Informatiker und Mitglieder des CTO-Boards von BBV Software Services unter anderem, warum sie ethische Software-Entwicklung dem Metaverse vorziehen, wo man Energie sparen könnte und welches IT-Thema in jedem Unternehmen Priorität haben sollte.

Herr Labud und Herr Ravicini, wie kommt man als Schweizer Softwareberater dazu, ein In­strument wie den Technica Radar zu entwickeln?
Patrick Labud:
Wir erstellen bereits seit vielen Jahren Technologie-Forecasts und stimmen uns intern regelmässig ab, mit welchen Technologien wir experimentieren möchten, wo wir Kunden haben, die für Neues offen sind, und wo wir die Schwerpunkte in der Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden setzen. Irgendwann tauchte dann die Frage auf, warum wir dieses Wissen und unsere Arbeit eigentlich nicht auch in den Schweizer Markt tragen.


Nun gibt es aber bereits ähnliche Angebote und Dienstleistungen von namhaften Marktforschern wie zum Beispiel Gartner.
Patrick Labud:
Die Hälfte der grossen Gartner-Trends ist für Schweizer KMU nicht relevant, weil sie nur Firmen ab ­einer bestimmten Grösse betreffen. Natürlich kann man diese Konzepte nehmen und versuchen, sie auf das eigene Unternehmen zu adaptieren.
Marco Ravicini: Das ist allerdings nicht einfach, wenn Firmen im Fokus stehen, die weltweit tätig sind und mehr als 10’000 Mitarbeitende beschäftigen. Deshalb übernehmen wir mit dem Technica Radar diese Transferleistung.

Eine Aufgabe, die bestimmt nicht einfach ist. Gab es beim Erstellen des aktuellen Technica Radars spezielle Herausforderungen?
Patrick Labud:
Die grösste Herausforderung war, dass wir immer wieder danach gefragt wurden, was denn der nächste grosse Trend sei – und wir zum Schluss kamen, dass momentan eher eine Evolution statt einer Revolution stattfindet. Es gibt also keinen «Übertrend», doch sind verschiedene Themen deutlich grösser und komplexer geworden.

Was ist denn mit dem Metaverse? Ist das nicht das «nächste grosse Ding»? Im Radar sucht man es vergeblich.
Patrick Labud:
Das stimmt. Dies liegt einerseits am angesprochenen Gap zwischen den grossen, internationalen Trends und der Schweizer KMU-Landschaft. Andererseits sind wir unserer Meinung nach noch weit entfernt vom «richtigen» Metaverse – also einer hoch-immersiven und vernetzten Online-Parallelwelt.
Marco Ravicini: Für Schweizer Firmen ist es aber wichtig, den Einstieg ins Metaverse nicht zu verpassen und abgehängt zu werden. Denn das Metaverse und Web-3-­Technologien werden stark kommerzialisiert sein und die Technik wird dementsprechend sehr schnell voranschreiten.
Patrick Labud: Es gibt aber erst noch viele Herausforderungen zu überwinden. Beispielsweise benötigt das Metaverse Kompetenzen und Mittel, die so auf dem Markt noch nicht breit vorhanden sind – zum Beispiel, wenn es um das Erstellen von 3D-Inhalten geht. Gleichzeitig ist die Technologie für virtuelle Realität (VR) noch nicht für jedermann zugänglich. Je nach Studie werden momentan durch Faktoren wie Epilepsie oder eingeschränkte kognitive Fähigkeiten nach wie vor 10 bis 18 Prozent der Bevölkerung ausgeschlossen.
Marco Ravicini: Während die VR-Hardware immer besser wird und die Verbreitung wächst, sind wir aber auch noch weit davon entfernt, dass sich alle das Metaverse leisten können. Nichtsdestotrotz beobachten wir in der Schweiz erste Firmen, die Experimente im Metaverse durchführen. Dazu gehören Anbieter mit einem speziellen Fokus auf das Metaverse sowie grössere Unternehmen, darunter auch Banken.

Gibt es im Technica Radar 2023 weitere Besonderheiten oder Entwicklungen, die Sie hervorheben möchten?
Marco Ravicini:
Abgesehen vom Metaverse gibt es aktuell kein Hype-Thema, über das alle sprechen. Dafür sind gewisse Trends wie das Cloud Computing oder das Internet of Things (IoT) inzwischen in Unternehmen angekommen und werden intensiv genutzt. So entstehen in diesen Bereichen diverse neue Herausforderungen, die gelöst werden müssen.
Patrick Labud: Nicht jedes IoT-Projekt ist übrigens zwangsläufig auch ein Cloud-Projekt. Wir beobachten momentan jedoch verschiedene Schnittstellenthemen wie zum Beispiel das Edge Computing, die an Fahrt aufnehmen. Zudem gewinnen Distributed Clouds und Multi Clouds, Cloud Governance sowie alle rechtlichen Aspekte oder Fragen zu einem effizienten Management im Zusammenhang mit Cloud Computing an Bedeutung.


Unter den über 80 Trends, die Sie gelistet und gewichtet haben, findet man auch die IT-Security. Ein Thema, um das kein Unternehmen herumkommt.
Patrick Labud:
Genau, denn egal welches IT-Projekt man durchführt, zuerst sollte ich mich um die Security kümmern. Dann sollte ich schauen, dass die Security stimmt. Und wenn ich ganz sicher sein will, dass ich nichts vergessen habe, schaue ich noch einmal nach der Security (lacht). Spass beiseite: In Zeiten, in denen Cyberattacken an der Tagesordnung sind, ist IT-Security ein eminent wichtiges Thema. Kein Wunder, beschäftigen wir uns bei BBV derzeit auch sehr intensiv damit.
Marco Ravicini: Wir unterstützen unsere Kunden bereits heute im Rahmen von Threat Modeling, also einer Gefahrenanalyse, auf der systematischen Suche nach Sicherheitslücken in ihrer Software. In Zukunft werden wir weitere IT-Security-­Dienstleistungen anbieten.
Patrick Labud: Gleichzeitig ist es für KMU nicht einfach, das interne Security-­Know-how zu vergrössern und Spezialisten zu finden. Deshalb sehen wir einen grossen Trend hin zu Partnernetzwerken und zur Zusammenarbeit in solch spezialisierten Bereichen wie der IT-Security.

Mal abgesehen vom Top-Thema IT-Security: Gibt es Trends, die Sie im vorliegenden Technica Radar persönlich vielleicht anders oder höher gewichtet hätten?
Marco Ravicini:
Ja, die gibt es. Wir haben im CTO-Board mit dem Framework Ethical OS so etwas wie ein «Lieblingskind» und machen uns viele Gedanken über die ethischen Aspekte der Software- und Technologie-Entwicklung. Wir finden dieses Thema nicht nur interessant, sondern auch wichtig. In der Schweiz und in unseren KMU ist es allerdings noch nicht richtig angekommen, obwohl es erste Initiativen gibt, rund um Datenethik beispielsweise.
Patrick Labud: Viele von uns sind durch die Tatsache, dass jedes Gadget und jede noch so tolle Softwarelösung potenziell missbraucht werden kann, überfordert. Sich dieses Risikos bewusst zu werden, ist in unseren Augen wertvoll – und löst schon einige Probleme. Dazu ist das Ethical OS da. Mein Traum wäre, dass dieses Tool fix in Unternehmen verankert ist. Davon sind wir allerdings noch weit entfernt.
Marco Ravicini: Dabei könnte man in sehr kurzer Zeit viel erreichen, und bereits für nur ein neues Risiko, das im Rahmen der Untersuchung auftaucht, lohnt sich der Aufwand.
Patrick Labud: Es ist wie bei der Softwarequalität: Alle denken, dass man hier sparen kann – bis man sich finanziellen Folgen gegenübersieht. Fazit: Wer in der Software-Entwicklung tätig ist, sollte sich das kostenlose Framework unbedingt anschauen.

Muss es mich als IT-Verantwortlicher in einem KMU beunruhigen, wenn ich Begriffe wie Ethical OS oder andere Trends im aktuellen Technica Radar noch nicht kenne?
Marco Ravicini:
Nein, das muss es nicht. Man kann heute nicht mehr alles kennen und wissen. Dadurch, dass es Trends sind, haben wir ausserdem die Bezeichnungen meist so übernommen, wie sie in den Foren und Communities am verbreitetsten sind. Es sind also bestimmt Fachbegriffe dabei, die man so noch nicht gehört hat. Wichtig ist in meinen Augen, dass man das Interesse an Neuem behält, sich unbekannte Trends anschaut und prüft, in welchen Unternehmensbereichen sie zum Einsatz kommen könnten. Um neue Themen in Schweizer KMU zu bringen, dafür ist unser Technica Radar da.
Patrick Labud: Auch wir sind bei unserer täglichen Arbeit nicht mit allen Trends konfrontiert. Deshalb sind wir auf unsere Experten angewiesen, die sich in den jeweiligen Themen gut auskennen.


Böse Zungen könnten behaupten, dass Sie im Technica Radar nur Trends aufführen, in denen BBV tätig ist und für sich Wachstumspotenzial sieht …
Patrick Labud:
Da wir ein Dienstleistungsunternehmen sind und keine eigenen Produkte vermarkten, besteht diese Gefahr nicht. Im Gegenteil: Wir sind nur erfolgreich, wenn es unsere Kunden auch sind und bleiben. Natürlich ist der Technica Radar durch unsere Erfahrungen gefärbt und erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt bestimmt weitere Trends ausserhalb unserer Bubble. Einen wichtigen IT-Trend für die Schweiz haben wir bis jetzt aber noch nicht verpasst.


Etwas Wichtiges haben Sie also noch nicht verpasst. Sind Sie mit einem Trend aber auch schon danebengelegen oder haben ein Thema falsch eingeschätzt?
Patrick Labud:
Ich persönlich habe das Metaverse lange als Secondlife 2.0 abgetan – habe aber erst kürzlich zu Marco gesagt, dass ich das Thema wohl grundsätzlich neu bewerten und ernster nehmen müsse.
Marco Ravicini: Grundlegend verpasst haben wir wie erwähnt noch nichts. Natürlich kommt es immer auf den Blickwinkel an, aus dem ich etwas betrachte. Jemand aus der Blockchain-Start-up-Szene würde eventuell zu einem anderen Schluss kommen.
Patrick Labud: Hingegen gab es schon Themen, von denen wir erwartet hatten, dass sie ganz gross werden und uns schliesslich frustriert zurückliessen. Mit Ethical OS wird es hoffentlich nicht so weit kommen. Und ich habe auch die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das Thema Design Thinking noch grösseren Anklang finden wird.


Schauen wir zum Schluss noch etwas weiter in die Zukunft. Welche Themen werden uns neben dem Metaverse mittelfristig beschäftigen? Quantencomputing vielleicht?
Patrick Labud:
Quantencomputing wird ganz bestimmt einen Einfluss auf das Thema Security haben – und das bereits in sehr naher Zukunft. Hier stellt sich erneut die Frage, ab wann entsprechende Lösungen für KMU praktikabel sein werden. Solange es, überspitzt gesagt, keinen Microsoft Cloud Service für Quantencomputing gibt, werden sich KMU solche Lösungen leider kaum leisten können.
Marco Ravicini: Wo ich grosses Potenzial sehe, ist im Bereich Artificial Intelligence (AI) und Machine Learning (ML). Hier ist die Technologie im Gegensatz zum Quantencomputing bereits da und sie kann auch von KMU eingesetzt werden. Damit werden AI und ML bald verbreiteter sein. Zudem sehen wir momentan einen Trend in Richtung Developer Experience und wie die Arbeit von Entwicklern noch besser unterstützt werden kann.
Patrick Labud: Wo wir ebenfalls am Ball bleiben, und viel geforscht wird, ist im Bereich Sustainable IT – oder wie es früher einmal hiess Green IT. Immer mehr Unternehmen setzen sich beispielsweise mit dem Stromverbrauch von Hardware und Rechenzentren auseinander, da besteht ein riesiges Potenzial.
Marco Ravicini: Es wurde auch schon untersucht, welche Programmiersprachen energiesparender sind als andere. Dabei wurde dasselbe Problem in unterschiedlichen Sprachen gelöst und anschliessend verglichen, wie viel Memory, CPU-Power und Energie insgesamt dafür aufgewendet wurde. Es gibt also auch im Software-Bereich entsprechende Entwicklungen. Die Herausforderung ist am Ende aber immer, dass man das gesamte System betrachten muss, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.

Patrick Labud

Patrick Labud ist seit über zehn Jahren bei BBV Software Services tätig. Er studierte Informatik und hat sich auf Content- und Frontend-Systeme sowie den Bereich Usability, User und Customer Experience sowie Design Thinking spezialisiert. Heute ist er hauptsächlich als Berater und Speaker für menschenzentrierte digitale Produktentwicklung tätig. Er ist Gründungsmitglied des CTO-Boards, das es inzwischen seit fast sieben Jahren gibt und die Technologiestrategie von BBV definiert sowie den Technica Radar herausgibt.

Marco Ravicini

Marco Ravicini ist gelernter Automatiker und arbeitete nach seinem Studium der Computer Sciences einige Jahre als Software-Crafter. Auch er ist seit über zehn Jahren für BBV Software Services tätig. Als Software-Architekt ist er besonders gefragt, wenn es um die Entwicklung der Architektur von Systemen geht – dies vom Entwurf über die Ausgestaltung bis zur Kommunikation mit den Kunden. Er verfügt über einen MAS in Human Computer Interaction Design und ist wie Patrick Labud Mitglied im CTO-Board von BBV. (mv)


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