Swiss IT Magazine: Wie wichtig ist Informatik bei der Rega?
Urs Rutzer: Unser Kerngeschäft ist die Luftrettung, und nicht die Informatik. Nichtsdestotrotz bilden Informations- und Kommunikationsmittel einen wichtigen und unverzichtbaren Faktor bei der Rega. Denn damit die Luftrettung funktioniert, muss eine ganze Rettungskette funktionieren. Diese beginnt typischerweise mit einem eingehenden Notruf, wo die IT und Kommunikation bereits ein erstes Mal ins Spiel kommen. Und dann begleiten sie jeden Einsatz von Beginn bis zum Schluss, beispielsweise bei der Einsatzplanung, beim Dispatching, bei der Kommunikation mit den Helikoptern und Flugzeugen bis hin zur Einsatzabrechnung und Administration.
Setzen Sie im Kommunikationsbereich voll auf ICT-Lösungen, oder kommen dort auch noch klassische Kommunikationsmittel zum Einsatz?Sowohl als auch. Wir haben vor rund einem Jahr im Rahmen einer Erneuerung der Einsatzzentrale die Telefonie-Infrastruktur auf VoIP umgestellt. Im Sinne von Notfallebenen im Falle eines VoIP-Ausfalls nutzen wir aber weiterhin auch noch die klassische Telefonie. Ausserdem betreiben wir ein eigenes, unabhängiges Funknetz, mit dem wir unsere Einsatzmittel jederzeit erreichen können.
Kann sich die Rega Ausfälle in der ICT eigentlich erlauben, oder muss die Verfügbarkeit annähernd 100 Prozent betragen?Nein, das muss sie nicht. Wir streben natürlich eine höchstmögliche Verfügbarkeit an. Wenn wir aber eine 100-prozentige Verfügbarkeit anstreben würden, wäre das wirtschaftlich nicht vertretbar. Bei uns hat es deshalb einen Abwägungsentscheid gegeben, in dessen Rahmen die Geschäftsleitung eine maximale Ausfalldauer von vier Stunden definiert hat, nach welcher beispielsweise die Einsatzzentrale der Rega wieder verfügbar sein muss. Das mag auf den ersten Blick lange anmuten. Doch wenn man bedenkt, dass selbst im Falle der grössten Katastrophe – als Szenario wäre der Absturz eines Flugzeugs auf das Regacenter hier am Flughafen Kloten denkbar – die Ausfallzeit maximal vier Stunden beträgt, ist das sehr ambitioniert. Wir betreiben deshalb auch eine zweite Einsatzzentrale, einen sogenannten Fallback-Standort in Winterthur. In diesem können wir innerhalb der definierten vier Stunden den Betrieb aufnehmen.
Das heisst, Sie betreiben die komplette Infrastruktur permanent zwei Mal?Nicht die komplette Infrastruktur, aber die einsatzkritischen Teile schon.
Können Sie umschreiben, wie Ihre IT-Abteilung organisiert ist?Die Rega mit ihren rund 320 Mitarbeitern ist eigentlich ein KMU. Die IT-Abteilung setzt sich inklusive meiner Person aus neun Mitarbeitenden zusammen. Wir sind also ein kleines Team, deshalb müssen die IT-Mitarbeiter über eine breite Palette von Fachkompetenzen in der Informatik verfügen. Die Gliederung ist so, dass sich drei Mitarbeitende im Wesentlichen um den laufenden Betrieb der Informatik und die Funkmittel kümmern – sprich die Server, Clients, Drucker, Netzwerke und Funkgeräte. Zwei Personen betreuen schwergewichtig die Vielzahl von Applikationen, die wir einsetzen, und tragen dafür die Systemverantwortung. Zwei weitere meiner Mitarbeitenden sind hauptsächlich für Projekte und Projektmethodik zuständig, ein Bereich, der immer wichtiger wird, da der Schlüssel zum Erfolg in der IT und im ganzen Betrieb in meinen Augen in der Projektarbeit liegt. Denn ein methodisch konsequent vorbereitetes und durchgeführtes Projekt führt zu funktionierenden und wirtschaftlichen Systemen und sorgt dafür, dass ganz viele potentielle Probleme erst gar nie auftreten. Und eine Mitarbeitende schliesslich kümmert sich zusätzlich um das Thema IT-Schulung und Ausbildung.
Inwieweit setzen Sie auf externe Dienstleistern?Im Bereich Betrieb arbeiten wir mit einem externen Dienstleister, der uns für den laufenden Betrieb Personal zur Verfügung stellt. Dazu arbeitet ein Team von drei bis vier Personen permanent bei uns im Haus.
Weshalb dieses Vorgehen?Wir möchten immer am Puls der zeitgemässen Technologien sein. Das ist angesichts unserer Teamgrösse einfacher, wenn man mit einem Dienstleister arbeitet, als wenn man die eigenen Mitarbeiter laufend auf den neuesten Systemen schulen und auch die Stellvertretungen sicherstellen will. Und wir möchten skalieren können, um beispielsweise bei einem System-Rollout das Personal dynamisch aufstocken zu können. Der Auftrag an den externen Dienstleiser wird alle fünf Jahre neu evaluiert, wobei wir bestrebt sind, ein KMU als Partner zu wählen. Die Rega ist eine bodenständige Firma und uns ist ein Partner auf Augenhöhe lieber als ein Weltkonzern, bei dem wir lediglich nur eine Nummer sind.
Aber Begehrlichkeiten von Weltkonzernen gibt es sicher. Ich kann mir vorstellen, die Rega ist ein attraktiver Referenzkunde.Das ist auf jeden Fall so.
Hilft der Name Rega auch bei der Mitarbeitersuche?Meine Mitarbeitenden sind mein wertvollstes Gut und haben für mich einen enormen Stellenwert. Wenn ich einen neuen Mitarbeiter einstelle, muss dieser für mich kompromisslos ins Team passen. Ist das nicht so, lasse ich die Stelle lieber vakant und kaufe die Leistungen ein. Doch der Name Rega hilft auf jeden Fall dabei, Mitarbeiter zu finden, so dass ich auch wählerisch sein darf.
Sie haben eine Vielzahl an Applikationen angesprochen, die bei der Rega im Einsatz sind. Können Sie das etwas ausführen?Nebst Standardapplikationen etwa für die Buchhaltung oder fürs Marketing kommt bei uns auch viel Spezialsoftware aus dem Medizinal- oder dem Flugbereich zum Einsatz. In der Vergangenheit wurden viele Applikationen intern im Haus entwickelt, teilweise sogar von den Piloten oder den Medizinern selbst. Das hat den Vorteil, dass man dadurch sehr nahe am Kunden war. Mit der fortlaufenden Professionalisierung der IT sind wir aber aus Gründen der Wartung und des Supports nun daran, diese Applikationen abzulösen. Wo es geht, setzen wir auf Standardlösungen, was allerdings sowohl im Medizin- als auch im Flugwesen nicht immer ganz einfach ist. Bei den Eigenentwicklungen, die wir weiterhin im Einsatz haben, sind wir im Moment daran, diese als Web-Applikationen umzusetzen.
Und das machen Sie inhouse?Nein, das macht ein externer Partner. Überall dort, wo wir Eigenentwicklungen einsetzen müssen, arbeiten wir auch mit Partnern. Dabei setzen wir ganz bewusst auf mehrere Anbieter – einerseits um Wettbewerb zu schaffen, andererseits aber auch, um das Klumpenrisiko zu minimieren.
Können Sie etwas zu aktuellen Projekten erzählen?Bei uns sind eine Vielzahl an Projekten in Arbeit – aktuell gegen 30 kleinere und grössere. Darunter hat es zahlreiche Infrastrukturprojekte wie etwa die Erneuerung von Servern oder den Ausbau der Rega-Einsatzbasen mit WLAN. Ein besonders spannendes Projekt, zumindest in meinem Empfinden, ist die Ablösung unseres Einsatzleitsystems für die Jets. Das bestehende System ist seit rund zehn Jahren im Betrieb und soll nun ersetzt werden. Dazu analysiert der zuständige Projektleiter zuerst die gesamten Prozesse. Er schaut also, wie der komplette Rettungsprozess abläuft – vom Eingehen des Notrufs bis zum Zeitpunkt, an dem der Patient in der Obhut eines Spitals ist. Ausserdem nimmt er die verschiedenen Rollen auf, die die Mitarbeiter entlang dieser Prozesse wahrnehmen. Daraus ergibt sich eine Art Storyboard mit verschiedensten Abläufen und Szenarien. Basierend darauf prüfen wir, welche Schritte wir mit Informatik unterstützen können und welche Anforderungen die IT dabei erfüllen muss. Mit diesen Anforderungen in der Hand machen wir uns auf die Suche nach Firmen, die ähnlich gelagerte Probleme haben, beziehungsweise nach Lieferanten, die mit ihren Lösungen unsere Anforderungen abdecken könnten, und beginnen mit dem Einholen von Offerten.
Das tönt kreativ.
Das ist kreativ. Man denkt bei IT zwar immer an Nullen und Einsen, aber Informatik ist überaus kreativ. Ein weiteres Beispiel dafür ist auch folgendes Projekt: Bei den Helikoptern sind wir heute praktisch in allen Bereichen an der Grenze des Möglichen angelangt, sowohl was die Geschwindigkeit wie auch die Leistungsfähigkeit angeht. Das einzige, was uns noch fehlt, ist die Allwettertauglichkeit. Bessere Wetterinformationen bei der Einsatzvorbereitung im Büro bis hin ins Cockpit würden Rettungsflüge ermöglichen, die wir heute nicht durchführen können. Und hier kommt die IT ins Spiel. Wir müssen es schaffen, so viele lokale Wetterinformationen wie möglich so aufzubereiten, dass diese dem Piloten möglichst jederzeit und überall zur Verfügung stehen. Er muss letztlich beurteilen können, ob er fliegen kann oder nicht. In dem Projekt, das wir nun lanciert haben, geht es vereinfacht ausgedrückt darum, den Piloten Korridore aufzuzeigen, durch die sie auf Sichtdistanz fliegen und zu den Spitälern gelangen können. Dazu nutzen wir unter anderem auch Daten von Webcams. Mittels automatischer Bilderkennung wollen wir es schaffen, die Sichtdistanz auszulesen und in das Datenmaterial für den Piloten mit ein-
fliessen zu lassen. Mit solchen und ähnlichen Informationen wollen wir letztlich erreichen, dass wir dem Piloten im Cockpit eine Art Tunnel aufzeigen können, durch den er auf Sichtdistanz von A nach B fliegen kann. Die Idee haben wir in der Basis von den Römern und ihren Römertürmen entlehnt. Melden wir dem Helikopter quasi Sichtkontakt von einem Turm zum nächsten, dann kann er durchfliegen. Und diese Informationen könnten dann auch Dritten zugänglich gemacht werden.
Die Entwicklung solcher Lösungen ist sicher nicht ganz billig. Müssen Sie sich als CIO einer gemeinnützigen Organisation für solche Projekte stärker rechtfertigen, als dass Sie dies bei einem herkömmlichen Unternehmen müssten?
Ich muss mich für jedes Projekt rechtfertigen, und das ist auch richtig so, denn die Rega steht nun mal im Fokus. Aber die Situation ist schon etwas speziell. Ich hatte noch bei keiner Station meiner beruflichen Laufbahn eine so geringe Budgetkompetenz. Das Budget, über das ich selbst bestimmen kann, liegt im tiefen vierstelligen Bereich. Für Beträge darüber braucht es eine zweite Unterschrift, je nachdem von meinem Stellvertreter, meinem Vorgesetzten oder gar zusätzlich dem CEO. Am Anfang habe ich mich recht schwer getan mit dieser Situation, inzwischen schätze ich dieses Vier-Augen-Prinzip aber.
Mit welchem Gesamtbudget operieren Sie?
Mit rund 5 Millionen Franken, wobei dies stark abhängig ist von laufenden Projekten.
Was reizt Sie an Ihrem Job am meisten?
Dass das, was wir hier bei der Rega zugunsten der Gönner und Patienten machen, sinnhaft ist. Es gab bis jetzt hier noch keine Aufgabe, die für mich keinen Sinn machte. Es kommt ab und zu vor, dass Personen, die gerettet wurden, das Bedürfnis haben, uns zu besuchen. Bei solchen Begegnungen wird einem bewusst, was wir auslösen können. Natürlich machen wir IT, eine an sich trockene Materie, aber unsere Projekte können letztlich mithelfen, Menschen zu retten.
Und wo liegt die grösste Herausforderung als Rega-CIO?
Ein Projektbewusstsein in der Firma zu verstärken und zu festigen. Bei der Rega arbeiten Mitarbeiter unterschiedlichster beruflicher Herkunft, die eine unterschiedliche Arbeitskultur mitbringen. Wir in der IT sind angewiesen auf methodisches, zielgerichtetes Vorgehen mit einer auf Langfristigkeit ausgelegten Optik. In der Einsatzzentrale beispielsweise arbeiten Menschen, die auf teils unklaren Angaben basierend sehr schnell reagieren und rasch entscheiden müssen. Also weniger im Sinne eines Planers, sondern vielmehr als Problemlöser. Diese beiden Arbeitskulturen arbeiten in Projekten zusammen, und hier einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist hochspannend und manchmal eine ziemliche Herausforderung.
(mw)