Editorial

Internet 2002: Kostenpflicht und Website-Schwund

Urs Binder: "Ich bin nicht etwa gegen kostenpflichtige Internetinhalte, sondern in höchstem Mass dafür - sofern die Qualität stimmt."

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/02

     

In Relation zum Lebenszyklus eines Menschen ist das Internet wohl gerade knapp dem Kleinkindalter entwachsen. Die allererste Experimentierphase ist vorbei; man weiss jetzt in etwa, wozu das Netz fähig ist und was es nicht kann. Man hat sich mit seinen Vorzügen, Tücken, Nettigkeiten und boshaften Charakterzügen bekanntmachen können und kann nun daran gehen, eine dauerhafte und fruchtbringende Beziehung aufzubauen. Noch ist nicht alles voll ausgewachsen, aber die vorhandenen Ansätze zeigen, in welche Richtung die Entwicklung weitergeht.


Umsonst ist nichts

Wie die Eltern des heranwachsenden Kindes müssen auch die Internetbenutzer zusehends feststellen, dass das Objekt ihrer Zuneigung keineswegs ohne Kostenfolge daherkommt. Statt Windeln, Babynahrung und später Kinderschokolade sind es beim Netz der Netze Abonnements, Kommunikationskosten und vielleicht die Anschaffung eines Webpad samt Wireless-LAN, die eine befriedigende Beschäftigung mit dem Liebling erst möglich machen. Von all den meist schönen, manchmal aber auch weniger stressfreien Stunden, die in die Beziehung investiert werden müssen, wollen wir gar nicht weiter reden.



Dazu kommen neue Begehrlichkeiten, mit denen uns die sogenannten Content-Provider auf den Pelz rücken. Bisher war ja das Meiste ohne Griff ins Portemonnaie zu haben, von den News der Tageszeitung bis zum Musikdownload à la Napster. Damit soll nun Schluss sein: Der Trend zeigt eindeutig in Richtung kostenpflichtige Inhalte. Allerdings dauert das Ganze: In einigen Fällen handelt es sich vorerst bloss um Drohungen - die diversen Schweizer Tageszeitungen, die Online-Abos per Abrechnung unter gleichzeitiger Reduktion ihrer gratis erreichbaren Seiten in Aussicht stellten, haben bisher nicht ernst gemacht. Irgendwann 2002 dürfte es aber soweit sein. In anderen Fällen existieren die Angebote hierzulande noch gar nicht - weder die Download-Bibliotheken der Musikindustrie wie Rhapsody und RealOne noch der brandneue Online-Photoservice von Apple samt Hauslieferung gebundener Alben sind auf absehbare Zeit ausserhalb der Grenzen Nordamerikas erhältlich. Dass Europa in der Angebotsvielfalt immer den USA hintennach hinkt, wäre spätestens seit der Einführung einer Einheitswährung für dreihundert Millionen potentieller Kunden wirklich nicht mehr zwingend.





Preis/Leistungsverhältnis muss stimmen

Um eines klarzumachen: Ich bin nicht etwa gegen kostenpflichtige Internetinhalte, sondern in höchstem Mass dafür - sofern die Qualität stimmt. Im Gegenteil, irgendwie komme ich mir als Abonnent zweier Tageszeitungen etwas blöd vor, wenn auch Nichtzahler einen erklecklichen Teil genau der selben News herunterladen können, die später in der Printausgabe erscheinen. Merkzettel an die Zeitungsverlage: Online-Vorzugsangebote für Print-Abonnenten wären eine nette Geste. Abgesehen davon bezahle ich - offensichtlich allerdings im Gegensatz zu diversen Umfragemehrheiten - lieber für qualitativ hochwertige Ware, statt dass ich mir die Nutzlast permanent durch aufsässige Werbung per Banner oder gar durch die grauenhaften Inter-, Super- und Weissichnichtnochwas-stitials madig machen lasse.





Unwesentlich abnehmende Zahlen

Eine Netcraft-Studie verzeichnete im Dezember 2001, dass gegenüber dem Vormonat rund 0,005 Prozent weniger Websites das Netz bevölkern. Dieses Minus liegt vermutlich innerhalb der Messgenauigkeit des Erhebungsverfahrens (wie will man überhaupt die Gesamtzahl aller existierenden Websites ermitteln?), und ein Grossteil der Reduktion fällt auf bisher zwar registrierte, aber nie genutzte und deshalb nicht erneuerte Domains (man spricht von inaktiven Domains im mittleren zweistelligen Prozentbereich und konstatiert erstmals mehr Ab- als Neuanmeldungen).




Aber auch abgesehen von der weitgehenden Bedeutungslosigkeit des Domainschwunds mache ich mir wohl viel zu grosse Hoffnungen, wenn ich angesichts verminderter Websites von einer damit verbundenen Qualitätssteigerung beim verbleibenden Rest träume: Eine Online-Umfrage bei den Surferinnen und Lesern von InfoWeek hat eine Unzahl von Grauslichkeiten ans Licht gebracht; ich bedanke mich an dieser Stelle für alle Meldungen. Das Material für mein iEX-Seminar "Todsünden im Webdesign" geht mir also leider auch in dieser Saison nicht aus.



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