Der Bewerbungsprozess, wie wir ihn kennen, könnte bald Geschichte sein. Stellenanzeigen schreiben, Lebensläufe sichten, Bewerbungsgespräche führen – all das wird zunehmend automatisiert. KI-gestützte Systeme könnten meiner Meinung nach die gesamte Personalstrategie revolutionieren. Ich frage mich aber, wo die Grenzen zwischen Innovation und Entmenschlichung liegen werden. Schon heute erledigen Systeme wie ATS einen Grossteil der Vorarbeit. Diese Programme scannen Lebensläufe auf Keywords, bewerten die Passung und sortieren Bewerberinnen und Bewerber aus, bevor ein Mensch überhaupt einen Blick darauf geworfen hat. Algorithmen können auch Soft Skills in Bewerbungsvideos bewerten oder durch Sentiment-Analysen Teamfähigkeit ableiten. Das bietet eine enorme Effizienzsteigerung. Doch wo bleibt die Menschlichkeit, wenn ein Algorithmus über Karrieren entscheidet? Wie neutral können Maschinen sein, wenn sie mit von Menschen gefütterten Daten trainiert werden?
Die Auswirkungen gehen aber weit über den Rekrutierungsprozess hinaus. Der Einsatz von KI könnte zu drastischen Personaleinsparungen im internal HR in Unternehmen führen. Warum eine grosse Personalabteilung finanzieren, wenn ein intelligentes System den Grossteil der Arbeit erledigt? Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine Reduktion von Stellen, sondern eine Verschiebung: weniger administrative und mehr strategische Funktionen.
Ich könnte mir eine kleine, hochqualifizierte HR-Elite vorstellen, die strategische Entscheidungen trifft und gleichzeitig von intelligenten Systemen unterstützt wird. Die Zeit, die heute in Routineaufgaben fliesst, wird frei für kreative Lösungen, die Pflege der Unternehmenskultur und Diversity-Strategien.
Befürworter von KI im Recruiting argumentieren, dass Maschinen objektiver entscheiden als Menschen. Doch Algorithmen sind nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert werden. Wenn historische Daten Vorurteile enthalten, reproduziert die KI diese Biases. Firmen wie Amazon erlebten dies hautnah, als ihr KI-Recruiting-Tool Frauen systematisch benachteiligte. Die Herausforderung besteht darin, KI-Systeme so zu gestalten, dass sie fair und transparent sind. Bewerber müssen verstehen können, wie und warum ein Algorithmus eine Entscheidung trifft. Ohne Transparenz droht ein Vertrauensverlust, der langfristig ganze Branchen schädigen könnte.
Trotz aller Fortschritte wird der Mensch im Recruiting-Prozess nicht vollständig überflüssig. Recruiter werden sich als Vermittler zwischen Mensch und Maschine positionieren müssen. Für Bewerber bedeutet die Automatisierung, dass sie sich anpassen müssen. Es reicht nicht mehr, einen gut strukturierten Lebenslauf zu haben. Schlagwörter, die von Algorithmen erkannt werden, werden genauso wichtig wie die Inhalte selbst. Doch in einer immer stärker von Daten getriebenen Welt könnte die Nachfrage nach authentischen, emotionalen Interaktionen steigen. Unternehmen, die dies erkennen und ihre Recruiting-Strategie entsprechend anpassen, könnten langfristig die Nase vorn haben.
Die Integration von KI im Recruiting ist unausweichlich und bietet immense Chancen – von Effizienzsteigerung bis hin zur besseren Entscheidungsqualität. Doch der Preis dafür könnte hoch sein, wenn Unternehmen den menschlichen Faktor aus den Augen verlieren. Die Zukunft des HR liegt darin, Technologie und Menschlichkeit in Einklang zu bringen: Technologie als Werkzeug, um die besten Entscheidungen zu treffen, und Menschen, um sicherzustellen, dass diese Entscheidungen menschlich bleiben.
Fabian Dütschler
Fabian Dütschler ist Founding Partner von One Agency, einer führenden IT-Personaldienstleistungsagentur mit Hauptsitz an der Bahnhofstrasse in Zürich.
In seiner Kolumne im «Swiss IT Magazine» beschäftigt sich Dütschler mit den Herausforderungen, die sich rund um die Personalsuche und die Karriereplanung ergeben.
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