Redesign statt weg vom Fenster
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/15
Kein Medium hat sich in der gesamten Menschheitsgeschichte so rasend schnell entwickelt wie das World Wide Web: Ging es beim Telefon noch 74 Jahre, bis 50 Millionen Teilnehmer einen Anschluss hatten, surften nach wenig mehr als fünf Jahren kommerzieller Verfügbarkeit schon mehrere hundert Millionen User im Web.
Mit der Vergrösserung der Webgemeinde hat sich auch deren Zusammensetzung geändert: Vor der kommerziellen Nutzung bevölkerten fast ausschliesslich Akademiker das Netz; heute gibt es keine bevorzugte Benutzerkaste mehr. Dementsprechend eröffnete das Internet immer mehr Anbietern immer interessantere Möglichkeiten für die Vermarktung ihrer Produkte und Dienstleistungen: Das Web entwickelte sich vom reinen Informationsmedium zum Marketinginstrument, das heute bei kaum einem Unternehmen im Channel-Mix fehlt.
Über die eigentliche Funktion der Website hinaus wirken sich Usanzen und Terminologie des E-Business-Zeitalters auf das gesamte Unternehmen aus: Nicht wenige Firmen haben in den letzten Jahren vom Firmennamen bis zum Logo ihre gesamte Corporate Identity modernisiert - die Webauftritte haben sich einerseits immer mehr in die Gesamt-CI eingepasst, diese bei manchen Unternehmen aber auch massgeblich beeinflusst.
Ebenso rasant wie die Benutzerzahlen entwickelten sich in den letzten Jahren die Basistechnologien für Webauftritte. Anfang der neunziger Jahre waren statische HTML-Seiten die Regel, die praktisch ausschliesslich Text enthielten. Nach einer Phase mit viel Animation und umfangreichen Grafiken, in der sich die meist vom Print-Gewerbe stammenden Webdesigner so richtig austoben konnten, kehrte zum neuen Millennium wieder die Sachlichkeit ein - heute sind informative Websites mit klarer Benutzerführung und interaktivem Mehrnutzen gefragt, zur Unterhaltung des Surfers punktuell angereichert mit multimedialen Inhalten und Online-Games. Hinter dem Design stehen anstelle von statisch vorprogrammierten Seiten heute durchwegs Datenbanken und Content-Management-Systeme, aus denen die Webpages bei jeder Anfrage aktuell und individuell generiert werden.
Neue Benutzergruppen, neue Produkte und Dienstleistungen, neue Anwendungsmöglichkeiten und bessere Performance dank fortgeschrittener Technologien, Veränderungen in der Corporate Identity sowie das professionellere Erscheinungsbild der Auftritte von Mitbewerbern bringen praktisch jedes Unternehmen dazu, den bisherigen Internetauftritt zu überdenken und ein umfassendes Redesign in Angriff zu nehmen. Die Möglichkeiten, dem Surfer auf dem Web mit interaktiven Anwendungen echten Mehrnutzen zu bringen und dank Content Management die Site unabhängig von kostspieligen Designern selbst zu pflegen, haben sich seit den HTML-Urzeiten derart verbessert, dass die Runderneuerung in den meisten Fällen mehr bringt als hie und da eine kosmetische Korrektur an den bestehenden Seiten. InfoWeek hat sich bei vier führenden Webagenturen erkundigt, was beim Redesign von Websites Sache ist. Im folgenden präsentieren wir die Antworten.
Alle Befragten sind sich einig: Einer der häufigsten Gründe für ein Redesign ist ein Wechsel im Corporate Design. Artur Schmidt, Communication Director und Partner bei Aseantic: "Es kann zum Beispiel notwendig sein, das äussere Erscheinungsbild der Website an das neue Corporate Design anzupassen. Oder das Seitenlayout muss neu strukturiert und der Content in einer anderen Form benutzerfreundlich visualisiert werden." Überhaupt sind die Benutzer von Websites anspruchsvoller geworden: "Das Aufsetzen einer Website oder eines Web-Shops allein reicht heute nicht mehr aus. Kunden wollen Mehrwertdienste." Diesen Kundenwünschen, so Schmidt weiter, genügen traditionelle, einfache Websites nicht mehr: "Die Integration dieser Dienste erfordert zunehmend den Aufbau integrierter Lösungen, die auch das Redesign bestehender Sites erforderlich machen. Aktualisierungsmöglichkeiten, Online-Zahlungssysteme, Content Management und Data Mining setzen die Unternehmen einem Innovationsdruck aus, der oftmals völlig neue IT-Architekturen mit sich bringt." Auch Namics-Sales-Manager Urs Bucher stellt die Ansprüche der Benutzer und damit auch der Website-Betreiber in den Vordergrund: "Die Kenntnisse des Kunden im Bereich Internet sind gewachsen und mit ihnen auch die Anforderungen an den Nutzwert der Website. Redesign ist heutzutage immer mit einem Mehrzweck verbunden, zum Beispiel mit der Einbindung in ein CMS-System oder der Ergänzung mit einem Shop."
Der Crealogix-CEO Bruno Richle betont die finanzielle Seite - der früher übliche Update aller Seiten von Hand ist schlicht zu teuer. Ein wichtiger Grund fürs Redesign sind deshalb "Kostensenkungen im Unterhalt der Website. Das geschieht meistens mit der Einführung eines Content-Management-Systems. Parallel dazu wird vielfach ein Redesign der Website gemacht, da das existierende Design sowieso angepasst und auf das CMS portiert werden muss."
Einen weiteren Aspekt bringt André Heller von der KMU-orientierten Webagentur Internezzo ins Spiel: Oftmals bringt ein neues Team, das für die Website zuständig ist, den Stein ins Rollen und schlägt der Geschäftsleitung ein Redesign vor.
Die Branchenexperten stellen sowohl technische als auch konzeptionelle Missstände fest. André Heller bemängelt, bei Websites der alten Schule sei oft der Seitenaufbau zu langsam. "Schuld daran sind Navigationssysteme, die mit schlecht optimierten GIF-Grafiken statt auf DHTML-Basis erstellt wurden, sowie ganz allgemein viel zu grosse Bilder - die Designer waren früher zu stark im Print-Denken behaftet." Ins gleiche Kapitel gehören die nicht nur für Heller überflüssigen Flash-Intros ("zum Skippen!"). Ausserdem bringt für den Internezzo-Projektleiter die Art und Weise, wie die Webseiten traditionell nachgeführt wurden, selbst ursprünglich anständig realisierte Sites allmählich aus dem Konzept: "Immer wieder wird ein bisschen Neues hinzugefügt, da und dort ein wenig aktualisiert - dadurch gehen jedoch Struktur und Strategie der Website verloren." Struktur und Strategie einer Website äussern sich nicht zuletzt in den Navigationsmöglichkeiten, die dem Surfer zur Verfügung stehen. Hier stellt Bruno Richle Handlungsbedarf fest. Viele Sites kranken an "unzulänglicher Usability. Die Benutzer verlieren sich im Informations-Urwald und klicken nach einer gewissen Zeit frustriert weg." Eine klare Benutzerführung ist auch für Urs Bucher wichtig, denn "Websites sind mit der Zeit so gewachsen, dass die ursprüngliche Navigationsstruktur und das Inhaltskonzept dem ganzen Content nicht mehr gerecht werden".
Mehrere Antworten vermerken ausserdem, manchen älteren Websites liege eine grundsätzliche Fehlkonzeption zugrunde. Richle: "Die Informationsarchitektur widerspiegelt die Struktur der Firma und nicht die Informationsbedürfnissse des Endkunden - die Site ist nicht zielgruppenorientiert." Zur Kundenorientiertheit gehören im übrigen laut Richle nicht nur Struktur und Erscheinungsbild der Site, sondern auch die Textinhalte: "Das Wording ist oft nicht dem Lesen am Bildschirm angepasst, die Texte sind zu lang und zu trocken."
Strukturelle Mängel sieht auch Bucher mit der Feststellung "Viele klassische Webpages wurden nach dem Bedürfnis des Auftraggebers statt aus der Sicht des Users erstellt. So bilden Websites oft die Strukturen oder die Produkteansicht der Firma ab, statt den User ins Zentrum des Informationsflusses zu stellen. Der Site-Betreiber hat sich nicht gefragt, was der User vom Besuch der Website erwartet und wie er zu den für ihn wichtigen Informationen kommt."
Schmidt wird konkreter: "Zu den am häufigsten anzutreffenden Fehlern gehören falsche Links auf den HTML-Seiten, falsch verlinkte Grafiken, die nicht dargestellt werden, sowie fehlerhafte Mailto-Tags zu den Mitarbeitern der Firma. Wenn angegebene Adressen nicht gültig sind, dann hat die Site ihren Sinn verfehlt. Solche Fehler sind Kommunikationskiller und lassen frustrierte User zurück." Ausserdem sind laut Schmidt viele Sites "immer noch grafisch wenig ansprechend gestaltet und dienen kaum dazu, einen Brand zu festigen".
Ein klarer Trend ist die Integration der Website in die Unternehmensinformatik und ins Gesamtmarketing des Betreibers. Crealogix, die vor allem grössere Unternehmen betreut, sieht gemäss Bruno Richle "einen Trend von der statischen Website zum interaktiven Portal-Modell mit Fokussierung auf Integration von Applikationen, Personalisierung und Integration von Backend-Systemen wie SAP für Shoplösungen oder CRM-Systeme mit firmenübergreifenden Kundendaten". Auch bei Aseantic, ebenfalls auf grössere Lösungen spezialisiert, müssen Lösungen zum Website-Redesign "zukünftig immer mehr Trends wie Site-Performance-Analyse, Site-Management sowie Module zum Data Mining berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist auch, dass eine Site das Management der Kundenbeziehungen unterstützt."
Punkto Erscheinungsbild merkt Crealogix-CEO Richle ferner an, "Flash, Animationen und so weiter werden nur noch dort eingesetzt, wo sich die Benutzerfreundlichkeit damit wesentlich steigern lässt". Urs Bucher von Namics betont, multimediale Elemente sollten situationsgerecht eingesetzt werden: "Sowohl unsere Kunden als auch wir als Agentur stellen den Anspruch einer zielgruppenadäquaten Mediennutzung, das heisst zum Beispiel beim Jugendmarketing die Integration von RealAudio, Flash und Quicktime-Movies, während ein Informationskunde aktuellen, professionell aufbereiteten Content in einer optimalen Inhaltsstruktur benötigt und auf nicht zweckgebundene Module verzichtet."
Den wichtigsten Trend sieht Bucher allerdings im Content Management: "Content-Management-Systeme gelten als wesentlichster und aktuellster Trend, wenn es um das Redesign von Websites geht." Genauso sieht es André Heller, der ausserdem die Abkehr von Frame-basierten Lösungen, die Integration von Flash-Elementen innerhalb der Website (im Gegensatz zur überflüssigen Flash-Intro) sowie ein professionelles, ins Corporate Design eingebundenes Erscheinungsbild erwähnt. Am wichtigsten aber findet Heller: "Das Design folgt der Funktion, und das Herz ist die Navigation."
Es ist kein Wunder, dass die Agenturen einhellig meinen, es gehe kaum mehr ohne sie. Artur Schmidt von Aseantic merkt beispielsweise an: "Wegen der Komplexität ist es heute dringend geboten, dass professionelle Agenturen herangezogen werden." Oft übersehen wird zudem der folgende Aspekt, den Schmidt ebenfalls erwähnt: "Eigenentwicklungen und kleine Anbieter bieten ausserdem immer weniger Sicherheit vor Ausfällen." Angesichts der zahlreichen Fälle aus der Praxis, wo nach dem konjunkturbedingten Abgang der kurz zuvor frohgemut eingestellten Web-Publisherin oder dem Konkurs der Webdesign-Einzelfirma die Website plötzlich ohne Betreuung vor sich hindümpelt, muss man Schmidt Recht geben.
Bucher findet, die Frage lasse sich schlecht generell beantworten. "Es kommt auf die Grösse des Unternehmens, seine technischen Skills, die gewählte IT-Strategie (Outsourcing oder Insourcing) sowie die Gegebenheiten bei der klassischen Kommunikation an (CI/CD oder Werbeagentur mit Internet-Wissen). Tendenziell ist aber zu empfehlen, Profis ans Werk zu lassen, egal ob diese intern oder extern sitzen."
Richle und Heller sehen auch im KMU-Bereich den Einsatz eines Content-Management-Systems als ideale Lösung. Bei Crealogix empfiehlt man heute einem KMU, ein kostengünstiges CMS einzusetzen, eventuell ein Produkt der Open-Source-Szene. Internezzo setzt für eigene Projekte auf das Produkt Webautor, das in enger Zusammenarbeit mit einer Schwesterfirma entstanden ist: "Grundsätzlich kann ich jeder Firma ein CMS empfehlen. Ein System jedoch, das modular aufgebaut ist - vielleicht braucht eine Firma nur zwei, drei mal pro Monat die News und einmal die Stellenangebote zu aktualisieren. Heutzutage gibt es CMS-Module bereits ab tausend Franken."
Zudem in der Print-Ausgabe: Vorher/Nachher-Beispiele bekannter Websites und Content Management ohne fettes Portemonnaie