Lernen mit Web 2.0

Die kollaborativen Techniken des Web 2.0 machen unbestritten Spass. Doch auch das Lernen wird mit ihnen einfacher - und vor allem anders.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/22

     

Wir alle tun es das ganze Leben lang: Lernen. Im Gegensatz zu früher in der Schule, bemerken wir heute aber kaum mehr, dass wir lernen. Das liegt teilweise daran, dass wir nur noch Dinge lernen, die uns auch tatsächlich interessieren und wir nicht mehr gezwungen sind, biologische, mathematische, chemische oder sonst welche Fakten aufzunehmen, ohne den tatsächlichen Nutzen davon zu erkennen. Teilweise liegt es aber auch daran, dass das Lernen an sich zurzeit ein komplettes Facelifting erhält, und zwar dank Web 2.0.


Das Wissen der Menschheit

Die gravierendste Auswirkung von Web 2.0 auf das Lernen ist wohl die Tatsache, dass nicht mehr bloss anerkannte Grössen eines Gebietes mittels ihren Büchern und ähnlichem Wissen verbreiten können. Durch Blogs und Wikis kann jedermann alle an seinem Wissen teilhaben lassen.


Der grosse Vorteil davon ist, dass jeder Mensch auf irgendeinem Gebiet Experte ist und sein Wissen weitervermitteln kann. Denn auch wenn nicht jedes Wissen in Form von Büchern oder Nachschlagewerken niedergeschrieben wird: Menschen, die es interessiert, gibt es mit Sicherheit. Schliesslich ist Wissenswertes nicht bloss in Büchern und Lexika anzutreffen. Ein sehr schönes Beispiel wäre hier die Restaurationsanleitung für eine alte Vespa. In der Literatur wird mit Sicherheit nicht beschrieben, wie man diese in Eigenregie restaurieren kann oder wieder flott kriegt. Das Internet kann dabei Abhilfe schaffen.
Diese Vermischung von Autorenschaft und Leser beziehungsweise Lehrer und Lernender hat für die Art und Weise des Lernens weitreichende Auswirkungen. Sehr schön lässt sich das auch an der immensen Themenvielfalt beobachten.

Bisweilen findet man auf Wikipedia Einträge über Themen, von welchen man bis dato nicht einmal wusste, dass sie existieren. Dieses umfassende Wissen, dasjenige der gesamten Menschheit nämlich, kann nun also zwar dezentralisiert, gleichzeitig jedoch an einem öffentlich zugänglichen Ort gelagert werden. Dies trägt grundsätzlich das Potential in sich, dass jeder von uns theoretisch Zugriff auf das gesamte Wissen
der Welt hat. Hat man aber immer und – diese Entwicklung ist bereits im Gange – überall Zugriff auf dieses immense Wissen, macht es da noch Sinn, etwas auswendig zu lernen? Ist es nicht ungleich wichtiger, in der immensen Informationsflut, welche zur Verfügung steht, die richtigen Antworten zu finden? Zunehmend wichtig ist also nicht, etwas Bestimmtes zu wissen, sondern zu wissen, wo man es nachschlagen kann.


Fluch und Segen zugleich

Der Vorteil von Web 2.0 ist gleichzeitig auch dessen Nachteil: Jeder kann mitmachen und jeder kann schreiben, was er will. Qualitätskontrollen gibt es keine, und der Lernende hat keinerlei Möglichkeit, sich direkt vor Ort von der Qualität des Artikels oder des angebotenen Wissens zu überzeugen. Um auf obiges Beispiel mit der Vespa zurückzukommen: Woher soll der User wissen, dass der Autor der Restaurationsanleitung nicht darauf aus ist, Vespafahrer zur Verschrottung des eigenen Motorrads zu bewegen?





Der Verbreitung von Wissen, aber leider eben auch von Falschinformation, steht mit dem Konzept von Web 2.0 prinzipiell nichts mehr im Weg. Der User muss also lernen, Informationen ihrem Wahrheitsgehalt nach selbst einzuschätzen. Und natürlich ist auch nicht jede Information gleich wichtig. Geht es bloss darum, eine eigentlich irrelevante, aber dennoch interessante Frage einigermassen wahrheitsgetreu zu beantworten, wird das Internet eine sehr ergiebige Quelle sein.

Ob der User dort nun die ganze Wahrheit lesen kann oder eine – wie man häufig beobachten kann – vereinfachte Version eines eigentlich komplexen Sachverhaltes vorgesetzt bekommt oder etwas komplett Falsches, ist mehr oder weniger egal. Es steht schliesslich nichts auf dem Spiel. Geht es aber beispielsweise darum, sich auf eine Prüfung vorzubereiten oder um entscheidungsrelevante Informationen, so sollte man die gefundenen Angaben immer auch mit «hartem» Wissen, das heisst Wissen aus anerkannten Quellen, vergleichen. Vorsicht ist schliesslich besser als Nachsicht.


Effektiver Lernen durch aktives Mitmachen

Doch nicht nur der Lernstoff selbst verändert sich durch Web 2.0. Auch unser Umgang mit ihm wird stark davon beeinflusst. Während lernen bis vor kurzem hauptsächlich reine Privatsache war, die man alleine zuhause oder in Ausnahmefällen in einer kleinen Arbeitsgruppe zu tun pflegte, ist es heute zur öffentlichen Angelegenheit geworden. In Internetforen werden Probleme diskutiert, über Online-Lexika können bei Bedarf in Sekundenschnelle periphere Informationen zu einem Thema herbeigezogen werden, und schliesslich können die Lernergebnisse auch gleich mittels Weblog oder mit Hilfe von Online-Textwerkzeugen festgehalten werden. Und alles, was man dazu braucht, ist ein Anschluss ans World Wide Web.


Diese Entprivatisierung des Lernens hat gleich zwei positive Effekte. Erstens wird sich der oder die Lernende entsprechend mehr Mühe bei der Bearbeitung des Stoffes geben, um bei Diskussionen in einem öffentlichen Umfeld eine gute Figur zu machen. Das bedeutet, dass die Lernmotivation durch den öffentlichen Charakter der Web-2.0-Umgebung erheblich steigen kann.



Der zweite positive Effekt des Lernens mit Web 2.0 hängt von der menschlichen Informationsverarbeitung ab. Grundsätzlich stehen uns dafür zwei verschiedene Wege zur Verfügung: Die periphere Route der Informationsverarbeitung, dem eigentlichen Lernen also, ist die alltäglichere. Dabei nehmen wir Wissen oder Informationen unbewusst in uns auf. Zum Beispiel immer dann, wenn wir an einen Ort gehen, an dem wir vorher noch nie waren. Unbewusst merken wir uns den Weg und können ihn später nachvollziehen. Oder wir schauen fern und wissen anschliessend – wenn auch bloss in groben Zügen –, was mitgeteilt wurde.


Auf der anderen Seite steht die Informationsverarbeitung über die zentrale Route. Bei dieser Variante ist die Aufmerksamkeit, welche wir den übermittelten Informationen zuwenden, ungleich viel grösser, und das Interesse daran wird bewusst wahrgenommen. Dadurch steigert sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns umfänglich an das vermittelte Wissen erinnern. Wird dies zusätzlich durch eine aktive Tätigkeit während des Lernens unterstützt, wie dies bei Web-2.0-Applikationen häufig der Fall ist, verstärkt sich der Lerneffekt noch einmal.


Institutionen sind gefordert

Die technischen Mittel für eine Revolution des Lernens stehen seit längerem bereit. Die soziale Komponente ist mit den Web-2.0-Anwendungen nun auch vorhanden. Während junge Menschen diese Technologie bereits selbstverständlich benutzen, bedeutet dies für die Bildungsinstitutionen eine radikale Veränderung. Viele Hochschulen sind bereits gut ausgerüstet, was den Bereich
E-Learning betrifft: Internetforen fördern den Dialog zwischen Dozenten und Studenten, Prüfungs- und Lernmodule ermöglichen es den Lernenden, eine Standortbestimmung ihres Wissensstandes durchzuführen, und multimediale Angebote wie Filme oder Animationen sollen den Stoff verdeutlichen.


Sämtliche E-Learning-Angebote sind jedoch nur flankierende Massnahmen. Die eigentliche Umstellung, diejenige der Unterrichtsform, muss erst noch ins Visier genommen werden. Die «Einer-steht-vorne-und-die-andern-hören-zu»-Methode ist im Gegensatz zum Lernen 2.0 veraltet und schlicht und einfach weniger effizient. Die grosse Herausforderung der nächsten Jahre wird also darin bestehen, die bisherigen Unterrichtsmodelle, den verbesserten Möglichkeiten gerecht werdend, anzupassen.



Eine zentrale Rolle im Unterricht von morgen wird sicherlich die Simulation spielen. Obwohl es bereits entsprechende Aktionen gegeben hat, besonders im Umfeld der Wirtschaft, wird die Möglichkeit, dass mittels der ICT-Technologie und Web 2.0 beinahe jedes Berufsumfeld simuliert werden kann (von handwerklichen Berufen einmal abgesehen), noch viel zu wenig wahrgenommen. Und das, obwohl die Simulation die beste Methode wäre, um zu lernen: Sie ist Learning-by-doing, bloss ohne die teilweise schwerwiegenden Konsequenzen, welche Fehler in der realen Welt nach sich ziehen können.


Geht es um die pädagogischen Anwendungsgebiete von Web 2.0, rückt das Konzept eines interaktiv aufgebauten Unterrichts schnell in den Mittelpunkt. Es ist unverständlich, weshalb viele Bildungsinstitutionen noch nicht auf den Zug aufgesprungen sind. Besonders in den Mittelschulen wird der Computer auch heute noch hauptsächlich als Arbeitswerkzeug angesehen und nicht als Kommunikationsgerät. Es bleibt zu hoffen, dass das Jahr der Informatik 2008 mit einigen Vorurteilen aufräumen kann und so den Weg freimachen kann für eine sinnvolle Nutzung von Web 2.0 in der Aus- und Weiterbildung.




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