Leiden und Freuden der IP-Telefonie
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/35
Voice-over-IP, der Ersatz des konventionellen Telefonierens durch IP-basierte Netzwerkkomponenten, einheitliche Ethernet-Verkabelung, IP-Telefone und passende Software, wird auch 2001 noch vielerorts mit skeptischem Blick betrachtet. Was im Demo-Raum des Herstellers und in kleineren, von Grund auf neu implementierten Installationen problemlos funktioniert, erweist sich im grösseren Unternehmen als komplexes Unterfangen, und der Teufel steckt im Detail - "Es ist nicht alles Gold, was glänzt", so das Fazit von Frank Müller Erkelenz, dem CIO der Zürcher Privatbank PBS, die auf einem nicht eben problemlosen Weg eine bestehenden Telefonanlage nach und nach durch Voice-over-IP-Technik ersetzt.
Dennoch ist Müller Erkelenz von der neuen Technologie überzeugt. Sie ermögliche Features, die mit herkömmlichen Anlagen nicht realisierbar seien, führe nach etwas höheren Basisinvestitionen im weiteren Ausbau zu Kosteneinsparungen und biete insbesondere bei der Integration von Telefonie und Computer (CTI) klare Vorteile, die zum Beispiel die CRM-Einführung erleichterten. Andere Anwender sind weniger enthusiastisch, so hat sich beispielsweise die Tamedia AG bei der Ausstattung ihres neuen Medienhauses nach eingehender Evaluation aus Qualitäts- und Kostengründen für eine konventionelle Lösung entschieden.
Ein Blick auf die Telefonieszene zeigt, dass Branchengrössen wie Alcatel, Nortel und Siemens neben den traditionellen Anlagen auch Voice-over-IP im Programm haben. Typisch für diese traditionellen Telecom-Hersteller sind komplette Systeme für KMU wie der Business Communications Manager von Nortel oder die Alcatel-Office-Produkte, mit denen sowohl konventionell als auch via VoIP telefoniert werden kann.
Für grössere Unternehmen gibt es stärkere Lösungen; Nortel zum Beispiel bietet mit dem Succession Communication Server for Enterprise 1000 eine skalierbare, IP-basierte Telefonieschaltzentrale an, bestehend aus Call-Server und Media-Gateways; bei Alcatel sind die OmniPCX-Systeme optional auch VoIP-fähig. Siemens bietet mit den Telefonanlagen der HiCom-150- und -300-Serie in Kombination mit HiPath-Kommunikationsservern optional VoIP-fähige Produkte; die HiPath-5000-Familie ist durchgängig IP-basiert und bietet je nach Modell Kapazität für 300 oder 800 Teilnehmer.
Eine zweite VoIP-Herstellergruppe bilden Netzwerk-Companies wie Cisco, die IP-Firma schlechthin, die diverse VoIP-fähige Router im Programm hat, die zusammen mit einem zentralen Call Manager und den IP-Telefonen das LAN gesprächsfähig machen. Auch 3Com ist mit VoIP-Produkten neu in den Telefoniesektor eingestiegen: Das Kommunikationssystem NBX 100 versorgt bis zu 100 Arbeitsplätze mit LAN-basiertem Sprachverkehr. Im Gegensatz zum Cisco-Betriebsmodell übernimmt hier nicht ein sonst für die Daten zuständiger Router zusätzlich den Sprachverkehr, unterstützt durch den auf einem separaten Server laufenden Call Manager; das NBX-System ist eine komplette Telefonzentrale, nur eben IP-basiert.
Die Hersteller preisen zwei Hauptvorteile der Voice-over-IP-Technik: Erstens komme sie billiger als die herkömmliche Telefonie, und zweitens ermögliche sie völlig neue Anwendungen und das bei mindestens ebenbürtiger Sprachqualität. Die Erfahrungen der Anwender zeigen, dass die Herstellerargumente zwar grösstenteils stimmen, aber nur einen Teil der Wahrheit offenlegen.
Die Grundinvestitionen sind bei VoIP je nach Konstellation höher: Ist nicht bereits ein reibungslos funktionierendes LAN mit hoher Kapazität vorhanden, muss es erst installiert werden. Ideal für VoIP ist 100-Megabit-Connectivity bis zum einzelnen Arbeitsplatz.
Kostenvorteile für VoIP ergeben sich bei der Verkabelung: Statt zwei Kabeln für LAN und Telefon benötigt der Arbeitsplatz nur noch die LAN-Anbindung. Dieser Vorteil schlägt vor allem dort zu Buche, wo keine bestehende Telefonanlage vorhanden ist.
Ebenfalls günstig: Interne Telefongespräche kosten auch zwischen verschiedenen Firmenstandorten nichts - vorausgesetzt, die Standorte sind bereits für den Datenverkehr mit einem unternehmenseigenen WAN verbunden. Ob diese Ersparnis angesichts stark gesunkener Telefontarife relevant ist, hängt stark von der Frequenz des internen Telefonverkehrs ab und muss für jede Firma geprüft werden.
Von "Telefonieren übers Internet" spricht im Business-Umfeld niemand mehr. Öffentliche IP-Telefondienste nach den Modellen "PC to PC" oder "PC to Phone" werden heute allenfalls noch im Privatbereich genutzt.
Die Sprachqualität verbessert sich mit zunehmender Produktreife und ist oft der konventionellen Telefonie ebenbürtig; gelegentlich treten aber Störungen wie Rückkopplungseffekte und Verzögerungen auf.
VoIP-Systeme bieten sich naturgemäss für integrierte Computer-Telefonie-Anwendungen wie Call-Center und CRM an. Die meisten benötigten Funktionen sind jedoch auch mit herkömmlichen Anlagen realisierbar, und oft versprechen die Hersteller mehr, als sie in der Praxis halten.
VoIP-Anwendungen fordern alle Komponenten des Netzwerks bis zum Äussersten und sind empfindlich gegenüber Änderungen. Detailunterschiede in den eingesetzten PCs und Betriebssystemen entscheiden oft über Funktionieren oder Nichtfunktionieren.
Die PBS Privat Bank Schweiz AG ist eine junge Bank: Sie wurde 1999 als reines Private-Banking-Institut gegründet, das nicht wie andere Privatbanken neben dem Private Banking auch eigene Fonds führt oder andere Bankgeschäfte betreibt. PBS ist an zwei Standorten in Zürich ansässig, dazu kommen eine Niederlassung in Genf und eine Tochterfirma in London sowie die ausgelagerte Operations-Abteilung "Outfits".
Die Gründung erfolgte unter anderem durch die Übernahme der Nikko Bank; eine HiCom-Telefonanlage von Siemens war bereits vorhanden. Diese war jedoch für die Zwecke von PBS unterdimensioniert.
In einem ersten Schritt fasste man deshalb zunächst eine grössere konventionelle Anlage ins Auge - der Einfachheit halber blieb man beim bestehenden Lieferanten.
Im Rahmen der Diskussionen brachte Siemens "im Nebensatz", wie Müller Erkelenz erwähnt, auch das Thema Voice-over-IP ins Spiel: Eine der Anforderungen der Bank waren bestimmte Call-Center-Funktionen, die sich laut Siemens mit VoIP-Technik besonders gut realisieren lassen.
"In erster Linie wollten wir CTI hinbekommen: Wir wollen zum frühestmöglichen Zeitpunkt wissen, wer am Apparat ist, damit wir den Anrufer von Anfang an mit Namen begrüssen können und die Kontakt-History am Bildschirm erscheint - das ist mit herkömmlichen Call-Center-Anlagen in der gewünschten Form nicht darstellbar." Als zweites entscheidendes Kriterium nennt der PBS-CIO den Wunsch, Infrastruktur und Call-Center in der Zürcher Zentrale zu konzentrieren, so dass der Kunde unabhängig vom aktuellen Einsatzort seines Private-Bankers immer die gleiche Nummer wählen kann und automatisch an den persönlich zuständigen Mitarbeiter weitergeleitet wird - je nachdem ins Büro, aufs Handy oder nach Hause. Auch diese flexible, mehrstufige Weiterleitung sei mit herkömmlichen Telefonanlagen nur schwer realisierbar.
Nach einer Demonstration beim Hersteller entschied sich PBS ohne weitere Evaluation für eine brandneue VoIP-Anlage von Siemens. "Siemens war bereits unser Lieferant und hat eine sehr gute Präsentation gemacht. Vielleicht waren wir etwas naiv und sind dem IBM-Syndrom gefolgt - 'wir kennen sie schon, und dann kann's ja nicht verkehrt sein'. Ausserdem hat uns Siemens glaubhaft versichert, dass herkömmliche Telefonie und Voice-over-IP in einem reinrassigen Siemens-Umfeld am besten miteinander klarkommen. Damit war für uns schnell klar, was wir nehmen wollten - Experimente mit anderen Herstellern kamen nicht in Frage." Siemens konnte darüber hinaus mit der NZZ eine Referenzinstallation vorweisen, die bereits mit der damals HiCom Express genannten VoIP-Infrastruktur ausgerüstet war.
Das Glück währte jedoch nicht lange. "Wir mussten sehr schmerzhafte Erfahrungen machen, das ist ja immer so, wenn man in eine relativ neue Technologie einsteigt. Wir haben die Übung mit Siemens nach einem etwa dreivierteljährigen Alptraum für beide Seiten abgebrochen." Ursprünglich war der Plan, nach dem Call-Center nach und nach die gesamte Bank auf VoIP umzustellen, zunächst an den neuen Standorten.
Schon am Anfang zeigten sich ernsthafte Probleme: Es gab hardwarebedingte Unverträglichkeiten. Die Software zum Beispiel funktionierte mit einer bestimmten Soundkarte, die der PC-Lieferant in gewissen Chargen seiner Produkte verwendete, nicht mehr. Auch mit unterschiedlichen BIOS-Versionen traten Fehler auf, und oft wurde die Gesprächsqualität durch Rückkopplungen beeinträchtigt. "Die Call-Center-Einheit stürzte mit schöner Regelmässigkeit ab - wir verloren Gespräche, und das ist für ein Call-Center natürlich ein Super-GAU. Der Hersteller hat immer wieder neue Releases eingespielt, aber nach neun Monaten entschieden wir, es könne so nicht weitergehen. Mitarbeiter und Kunden waren unzufrieden." Auch Siemens selbst habe im nachhinein zugegeben, dass die VoIP-Technologie zum damaligen Zeitpunkt noch nicht reif war. Massgeblich für die Probleme waren laut Müller Erkelenz nicht die hohen Anforderungen von PBS, sondern die in der PBS-Installation erstmals zusammengetroffene Kombination der verschiedenen Komponenten.
Im Herbst 2000 wurde also "ziemlich grollend" wieder eine herkömmliche Telefonzentrale eingebaut, pikanterweise ebenfalls ein Siemens-Modell, und das Thema VoIP war für die PBS vorderhand erledigt.
Schon im Oktober 2000 änderte sich die Situation erneut: Der Platzbedarf stieg; die PBS musste zusätzliche Räumlichkeiten mieten. Am neuen Standort Wiesenstrasse war noch keine Telefonanlage installiert - "da war technisch gesehen wirklich grüne Wiese. Mit unserer fortschrittlichen Einstellung fanden wir, man könne doch nicht nochmals eine alte Telefonanlage kaufen, und suchten nach einem neuen Voice-over-IP-Anbieter." Recherchen im Internet und in der Fachpresse brachten die PBS-Verantwortlichen dazu, sich näher mit dem Angebot von Cisco zu befassen. Der Kontakt zum Cisco-Partner Getronics erfolgte über die 60-prozentige PBS-Tochterfirma Cofex, die im Mutterunternehmen für die Netzwerkpflege zuständig war.
"Es gab wieder eine hervorragend funktionierende Demo - aber diesmal machten wir es anders: Wir verlangten eine Testinstallation im Haus, bevor wir etwas unterschrieben. Getronics verstand unseren Leidensweg und sagte zu." Innerhalb von zwei Tagen war eine funktionierende Testumgebung mit zehn Telefonapparaten an verschiedenen Standorten installiert; am Ende der sechswöchigen Testphase fiel der klare Entscheid: "Wir rüsten die komplette Wiesenstrasse aus (realisiert im Januar 2001), dazu dedizierte Apparate am Hauptsitz Utoquai sowie im Operations-Bereich (März)."
Die Grundfunktionen erfüllt die neue Anlage tadellos - Abstürze gibt es keine, Gespräche gehen nicht mehr verloren. "Die Anlage als solche funktioniert, das ist der grosse Unterschied zum ersten Versuch. Heute telefonieren 20 Mitarbeiter ausschliesslich via Voice-over-IP."
Trotzdem ist die VoIP-Freude auch mit der Cisco-Infrastruktur nicht ungetrübt. Einige der gewünschten Leistungsmerkmale sind bisher noch nicht verfügbar. Dazu gehört die Teamschaltung, ein bei konventionellen Telefonzentralen gängiges Feature: Läutet das Telefon bei einem Mitglied des Teams, kann bei Abwesenheit ein Kollege den Anruf übernehmen. Bei Cisco geht das laut Müller Erkelenz nicht: "Man hört es zwar aber man kann nicht übernehmen." Auch das Zusammenspiel zwischen der bisherigen Zentrale und dem VoIP-seitigen Call-Manager klappt nicht einwandfrei, so wird zum Beispiel nur die Nummer übergeben, wenn von einem IP-Telefon auf einen herkömmlichen Apparat weitervermittelt wird, der Name bleibt auf der Strecke.
Als dritten Mangel führt Müller Erkelenz die flexible Weiterschaltung an, die im gegenwärtigen Release der Cisco-Software noch nicht implementiert ist, obwohl das Feature eigentlich versprochen war. "Die Verkäufer sollten vielleicht etwas genauer auf den Kunden hören: Wir wollten die Funktionalität der bisherigen Anlage vollumfänglich auch mit VoIP haben - die Antwort war natürlich, sie könne sogar noch mehr. Diese kleinen, aber wichtigen Details funktionieren nun aber nicht so, wie es im Prospekt steht, und das ist sehr schade."
Die weitere Verbreitung von VoIP wurde deshalb vorerst gestoppt. Erst wenn die Unzulänglichkeiten in Zusammenarbeit mit Cisco ausgeräumt sind, werden die ISDN-Apparate an zusätzlichen Arbeitsplätzen durch IP-Telefone ersetzt. Ziel ist jedoch nach wie vor die komplette Umstellung im ganzen Unternehmen.
Ein wichtiges Detail sind auch die Apparate selbst: Es gibt von Cisco im wesentlichen ein einziges IP-Telefon, das dem amerikanischen Gusto entspricht und nicht alle Komfortbedürfnisse des verwöhnten europäischen Kunden erfüllt.
"Das Projekt Wiesenstrasse ist ein Nullsummenspiel." Die Kosten für die IP-Anlage entsprechen laut dem PBS-CIO ziemlich genau denen einer konventionellen Installation. Allerdings seien mit der Software und den Router-Erweiterungen einige Investitionen für die Zukunft bereits im aktuellen Stand enthalten: An neuen Arbeitsplätzen, zum Beispiel in Genf und London, können IP-Telefone ohne Zusatzinvestition künftig einfach eingesteckt werden. Die Endgeräte sind für beide Technologien ebenfalls praktisch gleich teuer.
Trotz aller Missliebigkeiten würde Müler Erkelenz auch in einem neuen Projekt voll auf Voice-over-IP setzen: "Ich glaube, dass die VoIP-Technologie zur ernstzunehmenden Konkurrenz für die alte Telefonie wird, sobald sie einmal breiter Fuss gefasst hat. Ob es für alle Anwender das richtige Mittel ist, wage ich zu bezweifeln - für manche mag VoIP technischer Overkill sein, aber für Unternehmen wie Banken, wo es immer mehr auf das Zusammenspiel zwischen Telefonie und Informatik ankommt, ist VoIP sicher das Richtige."
Das Fazit: Voice-over-IP steckt nach wie vor in den Pionierzeiten, wie auch Müller Erkelenz feststellt. Er rät aufgrund der bei PBS gemachten Erfahrungen allen Interessenten, auf jeden Fall nicht bloss staunend die Herstellerdemo zu verfolgen und dann gleich den Bestellblock zu zücken, sondern die Technik anhand einer Testumgebung mit allen eingesetzten Komponenten im eigenen Haus zu testen. "Auch kleine Netzwerke sind heute so komplex, dass bei kleinsten Änderungen an irgendeiner Stelle plötzlich etwas nicht mehr funktioniert. Unsere Netzwerkleute haben einen Horror vor jeder neuen Applikation. Deshalb: Demo-Raum ade, wirklich hingehen und die reale Umgebung auf Herz und Nieren prüfen - ganz sicher ist man auch dann nicht, aber zumindest wesentlich sicherer."