Die Zahlen der im Herbst 2010 publizierten Studien zum ICT-Berufsfeld sind klar: Mit gut 25 Milliarden Schweizer Franken trägt die ICT in unserem Land etwa gleich viel zur Wertschöpfung bei wie die Versicherungsbranche und mehr als die chemische Industrie (siehe Grafik auf S. 39). Ein nicht zu unterschätzender Faktor dabei ist die berufliche Grundbildung. ICT-Fachkräfte, die bereits beim Berufseintritt eine Branche kennen, die aus Erfahrung wissen, was Kundennutzen oder Dienstleistung bedeuten, sind für den Erfolg einer ICT-Leistung entscheidend.
Chancen nutzen und Lehrlinge ausbilden
Zu den Erfolgsfaktoren unserer wirtschaftlichen Entwicklung muss man Sorge tragen. Das heisst, sich auch in der Nachwuchsförderung zu engagieren, selbst wenn das nicht immer einfach ist. Lehrbetrieb zu sein ist eine Herausforderung, aber eine, die man unbedingt annehmen sollte. 16-jährige Lernende bereichern eine Unternehmung auf vielfältige Weise: Kulturell, indem sie andere Verhaltensweisen mitbringen als die erfahrenen «Hasen» einer Firma, und technisch, indem sie auf andere Art an Probleme herangehen und neue Lösungsstrategien anwenden. Gerade in der schnelllebigen ICT bringt die jeweils jüngste Generation einen wertvollen neuen Umgang und Zugang zur digitalen Welt mit, was für jede Firma eine Bereicherung darstellen kann.
Wenn man Lernende über die Jahre richtig begleitet, können sie eine immer grössere Zahl von Arbeiten komplett und selbständig übernehmen. Sie entlasten dadurch erfahrenere und höher qualifizierte Fachkräfte und tragen zur Effizienzsteigerung in der Unternehmung bei. Durch gezielte Investitionen in eine betriebliche Basisausbildung direkt am Anfang der Lehrzeit und durch innovative Modelle ist es auch möglich, den produktiven Nutzen zu verbessern und damit den «Pay-back» zeitlich sogar noch weiter nach vorne zu verschieben.
Es braucht bis zu 3000 zusätzliche Ausbildungsplätze
Viele Unternehmen stehen in einem täglich zu bewältigenden Konkurrenzkampf und glauben nicht in der Lage zu sein, daneben noch Kraft und Geld in die Nachwuchsförderung investieren zu können. Überdies sind viele internationale Unternehmen mit dem Berufsbildungssystem der Schweiz nicht vertraut und nicht bereit, in die Ausbildung von Fachkräften zu investieren. Sie übersehen dabei, dass gut ausgebildete ICT-Fachkräfte nicht nur zu den Erfolgsfaktoren der eigenen Unternehmung gehören, sondern auch für den Erfolg des ganzen Innovationsstandorts Schweiz wichtig sind – nebst den offensichtlichen Faktoren wie optimalen staatliche Rahmenbedingungen, tiefen Steuern und hoher Lebensqualität.
Die erwähnten Studien errechnen, dass auf allen Stufen bis ins Jahr 2017 rund 70’000 ICT-Fachkräfte ausgebildet werden müssten. Um nur schon den heutigen Lehrstellenanteil halten zu können, würden fast 1000 Lehrstellen zusätzlich gebraucht. Damit der Fachkräftemangel nachhaltig gedeckt werden kann, wären gar 3000 zusätzliche Lehrstellen nötig (siehe Grafik). Weiter gilt es dafür zu sorgen, dass die Berufsbildung nicht allein von den Schweizer KMU getragen wird. Ziel muss es sein, nicht nur selbst vermehrt Lernende auszubilden, sondern bei grossen ausländischen Unternehmen sich dafür stark zu machen, dass auch sie Lernende ausbilden oder sich in einem Lehrbetriebsverbund engagieren. Notfalls mit politischem Druck.
Lehrstellen alleine reichen aber nicht
Wir müssen also dringend mehr Lehrstellen schaffen. Doch das allein reicht nicht aus, wie ein Blick auf den Bereich Softwareentwicklung zeigt. Pro Jahr werden in der Grundbildung bestenfalls 400 Applikationsentwicklerinnen und -entwickler ausgebildet – um den Faktor 10 zu wenig. Es müssen mehr Ausbildungsplätze für Lehre und Praktika geschaffen werden, aber auch die Förderung von Informatikmittelschulen und von Umsteigerlehrgängen sowie die Motivation von Lehrabgängerinnen und -abgängern für eine höhere Berufsbildung sind gefragt.
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Umsteigerlehrgänge: Seit dem Jahr 2000 führt der Zürcher Lehrbetriebsverband einen zweijährigen Lehrgang als duale Lehre für Erwachsene durch. Angeboten werden Abschlüsse mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis Informatik mit Schwerpunkt Applikationsentwicklung oder Systemtechnik. Diese Fachausbildung entspricht genau der Lehre und der Informatikmittelschule. Diese Möglichkeit sollte auch in anderen Kantonen vermehrt angeboten werden.
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Informatikmittelschulen (IMS) ausbauen: Auf diesem schulischen Weg werden Applikationsentwicklerinnen und -entwickler mit kaufmännischer Berufsmaturität ausgebildet. Die IMS sind auch wichtige Zulieferer für die Fachhochschulen. Sie werden in der Regel von Schulen mit gleichzeitiger Handelsmittelschule (HMS) geführt. Da bei Letzteren derzeit ein Überangebot besteht, wäre der Ausbau der IMS für alle Beteiligten eine Erleichterung. Hier sind Politik (Vorstösse) und Firmen (Berufsfeld-Marketing) gefordert. Die IMS umfasst eine dreijährige Vollzeitausbildung, worauf ein Jahr Vollzeitpraktikum in einem Betrieb folgt.
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Höhere Berufsbildung nach der Grundbildung: Betriebe benötigen nicht nur Fachkräfte mit einem Lehrabschluss, sondern auch Absolventinnen und Absolventen mit höherer Berufsbildung oder Hochschulstudium. Im Bereich Applikationsentwicklung hat der ICT-Berufsbildungsverband soeben einen neuen Fachausweis Applikationsentwicklung geschaffen, der 2013 erstmals geprüft wird. Danach steht der Weg zum eidgenössischen Diplom oder an eine Fachhochschule offen.
Informatik in der Schule
Der Schweizer ICT-Dachverband ICTswitzerland hat sich Ende Oktober in einem Memorandum zur aktuellen Informatikausbildung in den Schweizer Schulen geäussert. In der Stellungnahme erklären die Unterzeichnenden, zu denen namhafte Vertreter aus der Schweizer IT-Industrie, der beiden Hochschulen ETH und EPFL und der kantonalen Universitäten gehören, dass der Informatik heute nicht der Platz zugewiesen werde, den sie verdiene. Wenn die Schweiz das Wachstum seiner IT-Industrie nicht langfristig bremsen wolle, sei es höchste Zeit, folgende Umstellungen in den Lehrplänen vorzunehmen:
- Informatik soll wie Mathematik als ein Pflichtfach bereits in der Primarschule gelehrt werden, und es soll Programmieren beinhalten.
- ICT-Kompetenzen, also der Umgang mit Computern, sollen schon in der Primarschule, spätestens jedoch auf der Sekundarstufe I erworben werden und nicht erst an einer Mittelschule.
- Informatik im Sinne des «Computational Thinking», des algorithmischen Denkens und der Verzahnung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens mit der Vorgehensweise der technischen Entwickler soll ein obligatorisches Fach an Mittelschulen werden.
Die Autoren
Ruedi Noser ist Unternehmer, Nationalrat, Präsident von ICTswitzerland und Vorstand von ICT-Berufsbildung Schweiz.
Alfred Breu ist Vizepräsident von ICT-Berufsbildung Schweiz.