Schweiz vor Informatiker-Engpass

Trotz hoher Arbeitslosenzahlen werden für die Zukunft zu wenig IT-Spezialisten ausgebildet, behauptet Alfred Breu, Präsident der Zürcher Lehrmeistervereinigung Informatik.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/09

     

Im Juni 2003 verfasste Alfred Breu, seines Zeichens Präsident der Zürcher Lehrmeistervereinigung Informatik (ZLI), ein Papier, in welchem er zu Beginn die Frage in den Raum stellte, ob im IT-Arbeitmarkt Schweiz zuviel Nachwuchs herangebildet wird. Dies im Hinblick auf Massenentlassungen und steigende Arbeitslosenzahlen auch im IT-Umfeld.
Breu kam dann aber zum Schluss, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir würden – in einem
typischen Schweinezyklus – «bereits wieder am nächsten Mangel bauen.»
Seine Überlegungen sind durchaus eine nähere Betrachtung wert.


Zu wenig Ersatz

Schätzungen zufolge waren per Ende 2002 rund 110'000 Personen in der IT-Branche tätig. Genaue Zahlen sind deshalb nicht möglich, weil Informatiker zwar in praktisch jedem grösseren Betrieb vorkommen, häufig aber nicht spezifisch als solche ausgewiesen sind. Breu nennt als Beispiel eine Bank, wo alle Mitarbeiter als "Bänkler" gelten, obwohl die grösste Bank der Schweiz auch der grösste IT-Arbeitgeber ist.




Gemäss Breu ist es so, dass im langjährigen Mittel zwischen fünf und sieben Prozent der Beschäftigten eines Berufsstandes infolge Abgangs - sprich Pensionierung, Berufsaufgabe und -wechsel, Todesfall etc. - ersetzt werden müssten. Das wären in der Schweiz
also 5000 bis 7000 Informatiker pro Jahr, die durch Nachwuchs ausgewechselt werden sollten. Im letzten Jahr - einem Rekordjahr - verliessen jedoch nur rund 2500 neue Spezialisten die Lehren, Fachhochschulen, Hochschulen und technischen Lehranstalten. So ist es also nötig, mehrere Tausend Angelernte in die Informatik nachzuziehen. Breu gesteht zwar ein, dass es in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wohl etwas weniger sein dürften, nach der Erholung der Wirtschaft werde diese Situation aber rasch wieder eintreten. Zudem komme ein weiteres Phänomen dazu. Die aktuell arbeitslosen Informatiker, oder zumindest ein Teil davon, werden in Zeiten des Aufschwungs nicht mehr verfügbar sein, da sie sich mangels Perspektiven derzeit anders orientieren. Wenn also die eingefrorenen Projekte wieder aus den Schubladen geklaubt werden, so ist Breu überzeugt, werden rund 10'000 Informatiker fehlen. Branchenkenner würden schätzen, dass in "erfreulicheren Zeiten" bis zu 120'000 Personen nötig sein werden. Er glaubt, dass die jetzt durchgesetzten Salär- und Honoraransatz-Reduktionen dann bald wieder kompensiert sein dürften, was Kosten zwischen 100 und 300 Millionen Franken zur Folge haben wird.


Zeitstabilität

Heute, im Frühling 2004, sieht Breu die Situation noch immer gleich, ja spricht sogar von einer Verschärfung. Zwischen 2001 und 2003 gingen die Lehrstellen um zirka 40 Prozent zurück. Und es geht noch weiter: "In diesem Jahr machen im Kanton Zürich 700 Lehrlinge ihren Abschluss. Doch nur 530 begannen vergangenes Jahr mit einer Informatiker-Lehre, und längst nicht alle werden sie beenden", so Breu. Das gleiche Bild an der ETH und an der Uni in Zürich. Im letzten Oktober begannen weniger als 300 Personen mit einem entsprechenden Studium, vor Jahresfrist waren es noch 500, und erfahrungsgemäss bleibt die Hälfte der Studienanfänger auf der Strecke. "Wenn der Aufschwung kommt, werden UBS, CS und ABB alleine die neuen, auf qualitativ hohem Niveau ausgebildeten Informatiker aufsaugen", ist Breu überzeugt, und er muss es wissen, schliesslich war er in den 90er-Jahren Ressort-Personalchef bei einer Grossbank.



Was also muss geschehen? Gemäss Breu war es bei vielen Firmen einfach so, dass man mangels Arbeit die Lehrlinge nicht zu beschäftigen wusste, und deshalb keine Plätze mehr schuf. "Doch auch wir von der Ausbildungsseite haben Fehler gemacht. Gerade für KMU waren die Lehrlinge viel zu häufig weg, für Grossbetriebe hingegen ging die Schulbildung zu wenig weit. An diesem Problem beziehungsweise am Schulmodell arbeiten wir aber derzeit", so Breu. Zudem gäbe es halt Firmenvertreter, die sagen, dass die heutige Jugend nicht zu gebrauchen sei - so abgedroschen dieser Satz auch tönen mag. Nicht einmal Breu kann dem vollständig widersprechen. Er sieht die Problematik zum Teil im zunehmenden Drang in die Gymnasien. Gerade die Zugpferde würde so fehlen. Zudem beobachtet er, dass Disziplin und Verhalten zu wünschen übrig lassen und dass die dritte Sekundarschule von den Lehrmeistern oftmals als verlorenes Jahr angesehen wird.




Doch es ist nicht unbedingt das Problem der mangelnden Lehrstellen, das Breu Kopfzerbrechen bereitet. "Bei den Jugendlichen heute besteht gar nicht so wahnsinnig viel Interesse, Informatiker zu lernen. Und Kinder wie auch Eltern haben offenbar das Gefühl, in der IT herrsche heutzutage das völlige Chaos." Doch so sei es beileibe nicht. IT-Spezialist sei durchaus ein Beruf mit Zukunft. Er könne einfach nicht in Massen gelernt werden. Breu führt aus: "Ich bin ein Verfechter von der Grundbildung einer konservativen Menge. Es verträgt auch jetzt keine Verdoppelung der Informatik-Lehrlinge, es muss einfach eine gewisse Zeitstabilität aufkommen, ein zu starkes Ausschlagen der Ausbildungsplätze beziehungsweise der Auszubildenden, sei es nach oben oder unten, ist gefährlich."


Nur 20 Prozent mit eidgenössischem Abschluss

Breu macht sich aber nicht nur Sorgen über den kommenden Mangel an IT-Spezialisten, der
aufgrund Entwicklungen wie Automatisation und Offshoring ohnehin schwierig zu prognostizieren ist. Er sieht grosse Probleme in der Schweiz bei der Qualität der Spezialisten.
"Stellen Sie sich vor, nur gerade knapp 20 Prozent derjenigen, die in der erwiesenermassen komplexen IT tätig sind, haben einen eidgenössischen Abschluss in irgendeiner Form auf diesem Gebiet. Für handwerkliche Berufe wäre so etwas undenkbar." Vor allem in einem Gebiet, das sich so schnell entwickelt wie die IT, sei ein solides Basiswissen jedoch unabdingbar.




Er fordert deshalb ganz klar, dass mehr Lehrstellen geschaffen werden. Eine Firma sollte pro zehn Informatik-Profis eine Lehrstelle schaffen. Es sollte eine Zusatzlehre für Erwachsene beziehungsweise Quereinsteiger geschaffen werden - inklusive eidgenössischem Fähigkeitszeugnis. Und zu guter Letzt müsse die Qualifikation heutiger Informatiker durch Weiterbildung erhöht werden und nebst Fachkompetenz sollten auch Methoden und die Sozialkompetenz gefördert werden. Im langjährigen Mittel hofft Breu, dass dereinst so viele Spezialsten ausgebildet werden, wie die Wirtschaft Bedarf hat. Schwankungen seien nicht zu vermeiden, jedoch dürften sie nicht so extrem sein wie jetzt.


Qualitativer Mangel

IBM geniesst einen ziemlich guten Ruf als IT-Arbeitgeber wie auch im Bereich Ausbildung (derzeit 12 Lehrlinge pro Jahr). Deshalb wollte InfoWeek von Big Blue wissen, ob die Situation wirklich so besorgniserregend ist, wie Alfred Breu sie beschreibt. IBM-Mediensprecherin Susan Orozco nimmt Stellung: "Wir sehen weniger einen möglichen Mangel in quantitativer, sondern eher in qualitativer Hinsicht." Deshalb werde bei IBM viel Wert auf stete Aus-
und Weiterbildung gelegt.




Bei der Frage, inwieweit Themen wie Offshoring und zunehmende Automatisierung bei diesen Diskussionen berücksichtigt werden müssen, bleibt IBM hingegen eine klare Antwort schuldig und spricht davon, dass man sich auch in der Schweiz den globalen Trends nicht verschliessen könne, und dass man globalen Herausforderungen nur mit top ausgebildeten Mitarbeitern begegnen könne. Fakt ist: Gerade bei IBM selber ist Offshoring ein stetiges, aber gerne totgeschwiegenes Thema.

(mw)


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