«Ehrliche Leute haben nichts zu befürchten.» Das ist die Standardantwort, die man immer wieder hört, wenn man auf die zunehmend mächtigen und für Missbrauch anfälligen elektronischen Überwachungssysteme aufmerksam macht. Bekannte Beispiele sind die Überwachung der internationalen Bank-Transaktionen bei der Swift durch die US-Verwaltung oder das verbreitete Abhören von Telefonaten in Italien. Aber eben, ehrliche Leute haben nichts zu befürchten.
Auf den ersten Blick ist das selbstverständlich, und deshalb wird diese Erklärung auch von vielen akzeptiert. Tatsächlich handelt es sich aber um eine bewusste Täuschung. Denn auch ehrliche Leute sind durchaus betroffen: Unbewusste Fehler, Namensgleichheit, Ungenauigkeiten, gestohlene Identitäten, offener Missbrauch, Diskriminierung – die Liste der Fehlerquellen und Missbrauchsmöglichkeiten ist lang. Kommt dazu, dass die Versuchung für Regierungen und Verwaltungen stets zunimmt, die Überwachungstechniken schon nur deshalb zu benutzen, weil sie halt existieren. In den aktuellen Zeiten der erhöhten Grundangst kommt die Begründung wie gerufen, man tue dies nur, um den ehrlichen Bürger zu schützen.
John Twelve Hawks, ein geheimnisumwitterter Autor, hat einen sehr guten Roman über die Vorstellung geschrieben, dass der ehrliche Bürger nichts zu befürchten hat. Und er zeigt, wie unwahr diese Behauptung ist. Das Buch heisst «Traveler» und erscheint Anfang Dezember als Taschenbuch im Goldmann-Verlag.
«Traveler» ist die Geschichte einer mächtigen Organisation, die die Gesellschaft mit Hilfe der sogenannten «Vast-Maschine» kontrollieren will. Dabei handelt es sich um ein allumfassendes Internet der nächsten Generation, das in jede Datenbank, jede Überwachungskamera, jede Bank-Transaktion, jedes Reservationssystem etc. hineinreicht. Natürlich gibt es in der Geschichte auch «die Guten», eine Handvoll Menschen, die sich gegen die Uniformität wehren, indem sie auf Computer, Kreditkarten etc. verzichten und als ultimative Waffe ihre Menschlichkeit nutzen.
Soweit, so bekannt – John Twelve Hawks Geschichte erinnert auf weiten Strecken an «Matrix» und Orwell und andere Science-Fiction-Welten. «Traveler» spielt allerdings nicht in einer fernen Zukunft, sondern am Ende unserer Dekade. In einem Postskriptum stellt der Autor fest, dass alle Technologien, über die er schreibt (vom Quanten-Computing über RFID-Tags, Sensoren und biometrische IDs bis zu Datamining-Software und Überwachungskameras), entweder bereits in Gebrauch oder aber zumindest in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium sind. Nur schon die Tatsache, dass eine solche Geschichte als Science-Fiction taxiert wird, beweist, wie klein das Bewusstsein der meisten Menschen den – potentiellen oder tatsächlichen – Gefahren gegenüber ist, die die vernetzten Technologien haben, die uns tagtäglich umgeben.
«Traveler» ist ein gutes Beispiel dafür, dass vernetzte Technologien unsere konventionelle Sicht von Privatsphäre total verändert haben und dass sie – gerade auch im Zusammenhang mit der heute allgegenwärtigen Angst – ein gefährlich mächtiges Werkzeug zur Überwachung, Manipulation und Kontrolle geworden sind. So sagt einer der «Bösen» im Roman: «Wenn jemand weiss und akzeptiert, dass er permanent beobachtet wird, dann wird das einfach ein Bestandteil seines Lebens», was wiederum das Verhalten und die Wahlfreiheit beeinflusst und in Tausenden kleinen Einzelheiten zunehmend die Freiheit und die Menschlichkeit erodiert.
«Traveler» ist allerdings kein dunkles Buch –
es ist eher eine Geschichte, die zur Vorsicht mahnt. Sie zeigt nämlich auch, dass Freiheit und Privatsphäre durchaus geschützt werden können: durch Aufmerksamkeit und kleine Entscheidungen im Alltag.