Herausforderung Claim Management

Gerade bei komplexen Outsourcing-Geschäften und -Verträgen ist ein gut durchdachtes Claim Management unabdingbar.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/10

     

Oft wird bei den Vertragsverhandlungen berechtigterweise viel Zeit und Geld in einen hohen Qualitätslevel der Vertragswerke investiert. Ist die – zuweilen hektische und arbeitsintensive – Verhandlungsphase einmal abgeschlossen, ist vielfach zu beobachten, dass während der Setup- oder Betriebs­phase nicht mehr derselbe Qualitätsgedanke gepflegt wird, wodurch hart errungene Rechte und Vorteile verwässert werden können. Dies zu verhindern, ist unter anderem Aufgabe des Claim Management.


Was ist Claim Management?

Claim Management im hier verstandenen Sinn umfasst alle Massnahmen zur einvernehmlichen Lösung von Problemen und Leistungsstörungen, welche während der Erfüllungsphase von Verträgen auftreten. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass kein Vertrag alle künftig auftretenden Fragen oder Konflikte vor­aussehen oder gar antizipieren kann. Je längerfristig und intensiver eine Vertragsbeziehung zwischen den Parteien ist, desto eher ist empfehlenswert, Regeln in den Vertrag aufzunehmen und Strukturen zur Konfliktbewältigung vorzugeben.
Vor allem in Verträgen über Systemintegration, Software-Entwicklung, Outsourcing oder Wartungs- und Pflegeleistungen haben sich solche Regeln in der Praxis bewährt. Je nach Art und Umfang der Leistungen können Claims mittels einer geschickten Vertrags­systematik (z.B. Etappierungen bei der SW-Entwicklung) vermieden oder wenigstens in ihren negativen Auswirkungen eingegrenzt werden. Die Leistungsbeschreibung ist eine der zentralsten Quellen von Claims. Je präziser diese erarbeitet worden ist, desto klarer kann unterschieden werden, ob eine bestimmte Leistung vom Lieferanten geschuldet ist (in of scope) oder nicht (out of scope).






Sinnvoll ist die Einführung des Claim Management im Idealfall schon bei der Vertragsgestaltung. Erstens dient es der Vertrauensbildung unter den Verhandlungspartnern, ein Thema wie Claim Management offen zu diskutieren, und zweitens können damit frühzeitig wichtige Fragen beantwortet werden, wie beispielsweise: Wie wird ein Claim definiert? Wie und vor allem wann entdeckt man einen Claim? Wer ist zuständig für die Er­ledigung eines Claims? An wen kann er eskaliert werden? Welches Gremium hat welche Befugnisse?


Claim Management oder Change Management?

Die Grenzziehung verläuft zwar nicht scharf. Ein Change kann zu einem Claim oder ein Claim mit einem Change erledigt werden. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Ursachen von Changes oft von der Technik vorgegeben sind, also beispielsweise auf Änderungen, Erweiterungen und Verbesserungen der IT-Infrastruktur zurückzuführen sind. Claims hingegen sind von beiden Parteien ungewollt und tauchen meist überraschend auf (Betriebsstörungen, Ausfälle, Mängel, Defekte, Verzug usw.). Während der Change-Management-Prozess sowohl vom Kunden als auch vom Lieferanten in der Regel ohne grössere Probleme gehandhabt werden kann und mindestens rudimentär in den Vertragsvorlagen oder AGB abgebildet ist, fehlen im Umgang mit Claims oft die Erfahrung und die Möglichkeit, auf Vorlagen und Know-how zurückzugreifen. In vielen Fällen kann das Claim Management in bereits bestehende Prozesse eingebunden werden, was die Handhabung vereinfacht und die Akzeptanz fördert.


Ziele des Claim Management

Das Augenmerk liegt auf der Sicherstellung der vertragsgemässen Erfüllung durch beide Parteien in zeitlicher, qualitativer und quantitativer Hinsicht. Ferner hat die Praxis gezeigt, dass frühzeitig erkannte und behandelte Claims erhebliche Einsparungen an Geld, Zeit und Nerven mit sich bringen, weil eine (Um-)Disposition der Ressourcen noch eher möglich ist. Schliesslich geht es beiden Parteien um die Werterhaltung des Vertrags (respektive des Geschäftes) als solchem. Die Resultate des Claim Management können überdies in die Lieferantenbewertung und -beurteilung einfliessen. Konsequentes Claim Management muss jedoch begleitet sein von einer offenen und lösungsorientierten Kommunikation intern sowie zwischen den Partnern.


Die Wirkungsweise

Es gilt der Grundsatz, dass auftretende Probleme möglichst auf Projektebene (oder Betriebsebene) zu lösen sind. Das garantiert sachgerechte und rasche Resultate. Kann eine Frage aufgrund ihrer Tragweite oder der juristischen und wirtschaftlichen Konsequenzen nicht mehr durch die Projektleiter verantwortet werden, sollte die Möglichkeit bestehen, diese an eine übergeordnete, «neutrale» Instanz zu eskalieren. Damit stellt man sicher, dass die Mitarbeitenden sich dem Projekt widmen können und nicht endlos Zeit und Energie in fruchtlose Diskussionen um einen Claim verschwenden. Eine bestehende Rechtsunsicherheit kann oft durch Interpretationen von Vertragsklauseln beseitigt werden.
Das setzt jedoch voraus, dass in allen Phasen eines Geschäfts auf eine vollständige Dokumentation des Sachverhalts geachtet wird. Damit die vertraglichen und gesetzlichen Rechte des Kunden nicht verloren gehen, ist eine sofortige schriftliche und eingeschriebene Anzeige von Abweichungen an den Lieferanten abzusetzen.





Die Grafik zeigt anhand des Beispiels eines sehr umfangreichen Beschaffungsprojektes die Eskalationsstufen, welche zwischen dem Kunden und dem Lieferanten etabliert und «gelebt» wurden. Das Bild zeigt das Zusammenspiel von Reporting-, Informations- und Eskalationsprozessen auf. Die Abkürzungen folgen der im Projekt gewählten Vertragsstruktur, wobei Contract Management Team für CMT und Agreement Management Team für AMT steht. Anstelle von CMT werden oft die Ausdrücke Lenkungsausschuss, Steering Board oder Vertrags-Management-Team verwendet.
Die Optik des Lieferanten
Interessant ist, dass nicht nur der Kunde ein Interesse an einem proaktiven Claim Management hat, sondern auch der Lieferant/Provider, wenn auch aus einer anderen Motivation. Für ihn steht die Einhaltung des vereinbarten Fixpreises oder allenfalls die Möglichkeit der Verrechnung der durch den Kunden verursachten Mehraufwendungen im Vordergrund. Die Hauptproblematik liegt hier darin, dass der Preis auf Franken und Rappen genau bestimmt ist, die korrespondierende Leistung aber nicht oder nur ungenügend, so dass immer wieder Diskussionen aufkommen, welche Leistungen oder Gegenstände vom Lieferumfang des Lieferanten abgedeckt sind und welche nicht.






Hier hilft in der Regel nur eine abschliessende Aufzählung im Vertrag oder seinen Bestandteilen. Im Weiteren wird der Lieferant mit Argusaugen die Einhaltung der Mitwirkungspflichten durch den Kunden überwachen. Denn diese können nicht nur zu einer Verschiebung von Meilensteinen führen, sondern ebenfalls zum Teil markante Mehrkosten verursachen, deren Tragung oft Anlass zu Claims gibt. Und schliesslich wird der Kunde darauf achten müssen, Weisungen oder Informationen, welche für den Lieferanten wesentlich sind, vollständig, rechtzeitig und fehlerfrei zur Verfügung zu stellen (beispielsweise Informationen über Schnittstellen), will er nicht riskieren, den Fixpreis zu überschreiten.





Vor allem dann, wenn ein Claim plötzlich auftritt und gravierende Auswirkungen hat, stellt sich die Frage nach den «vorsorglichen Massnahmen», welche der Kunde ergreifen kann. Tritt die Abweichung erst bei der Prüfung eines Systems auf, darf weder eine Abnahme noch eine (teilweise) Produktivschaltung erfolgen. Dabei handelt es sich zwar um Binsenwahrheiten, gegen die in der Praxis aber erstaunlich oft verstossen wird. Im Weiteren ist eine substanziierte, schriftliche Anzeige (Beizug eines Juristen empfehlenswert) an den Lieferanten angebracht. Ob (fällige) Zahlungen an den Lieferanten gestoppt werden können, bis der Mangel behoben ist, hängt primär von der vertraglichen Regelung ab, wobei darauf zu achten ist, dass eventuell auch Zahlungen aus anderen Geschäften mit demselben Lieferanten betroffen sein können. Das chronologische Sammeln und Auswerten der Dokumentationen gehört ebenso zum Standardprozess wie die Erfassung der Mehraufwendungen und anderer Schadensposten. Eine Analyse des Vertrages zeigt die weiteren Handlungsmöglichkeiten oder Anspruchgrundlagen auf.



Stufengerechte Eskalation


Was lässt sich standardisieren?

So wie das Evaluationsverfahren weitgehend standardisiert ist, lassen sich auch bezüglich Claim Management zahlreiche Hilfestellungen erarbeiten. Diese betreffen beispielsweise:



Vertragsklauseln



Eskalationsmassnahmen und verfahren



Templates für Reportings durch den Lieferanten



Gleichschaltung der Informations-, Kommunikations- und Meetingstrukturen



Eigentliche Claim Desks (Sprechstunden)



Templates für Abmahnungen, Mängelrügen und andere Anzeigen



Checklisten
Oft wird Claim Management unbewusst und unstrukturiert betrieben. Das kann in kleinen Organisationen und Projekten durchaus funktionieren. Bei komplexeren Geschäften erweist sich die Institutionalisierung schnell als hilfreich und kann zu einem eigentlichen partnerschaftlichen Führungsinstrument werden, sofern es mit «gesundem Menschenverstand» betrieben wird.




Eine Auswahl der wichtigsten ICT-Outsourcing-Anbieter im Überblick


Der Autor

Thomas Eberle ist Rechtsanwalt und Senior Contract Manager, Gründer und Mitinhaber der TeleTrust Partner AG.




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