Lotus Domino R6 - von der Groupware zur Middleware
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/30
Es gab wohl noch nie eine Version von Lotus Notes/Domino, über die im Vorfeld so viel diskutiert wurde wie über das anstehende Release 6. Dazu mag die lange Wartezeit der zunächst als "Rnext" bezeichneten Version beigetragen haben. Die Hauptursache liegt aber sicherlich darin, dass Lotus zwischen dem Release 5 und dem Release 6 von einer recht eigenständigen IBM-Tochter zu einem gut integrierten Firmenteil geworden ist. Entsprechend stellt heute Lotus Software schlicht eine Produktlinie neben Tivoli Software oder WebSphere im Portfolio von IBM dar.
Lotus hat, wie schon ein Blick auf das Layout der Website oder die Entwickler-Site Lotus Developer Domain zeigt, viel von seiner Eigenständigkeit verloren. Anders als das stark von Iris Associates, den eigentlichen und vor Jahren von Lotus übernommenen Notes-Entwicklern, geprägte Notes.net, präsentiert sich die Developer Domain im IBM-Einheitslook. Da die Trennung zwischen Lotus Domino und den WebSphere-Produkten nicht immer eindeutig war, gab es bei den Nutzern von Lotus Domino auch mehr oder weniger laut artikulierte Befürchtungen, dass die Lotus-Technologie völlig in der WebSphere-Produktreihe aufgehen könne. Hinzu kamen Änderungen im Laufe der Entwicklung von Lotus Domino. Gab es in der letzten Beta-Version noch eine in Lotus Domino R6 integrierte Servlet-Engine, so verweist IBM nun auf den IBM WebSphere Application Server. IBM nennt als Vorteil, dass so beliebige Servlet-Engines mit Lotus Domino genutzt werden könnten, wobei IBM natürlich daran gelegen ist, dass es sich dabei um WebSphere handelt. Patrick Fischbacher, Sales Manager Lotus der IBM Schweiz, dazu: "Wir werden durch eine optimale Produktkombination und -lizenzierung dafür sorgen, dass die Kunden von den Vorteilen beider Umgebungen profitieren." Letztlich waren es aber diese Veränderungen, die für die Unsicherheit gesorgt haben.
Eine gewichtige Rolle dabei spielten auch die Web-Service-Ankündigungen. Web-Services sind ein zentrales Element der Strategie von IBM, womit Anwendungen über standardisierte Protokolle die Dienste anderer Systeme nutzen sollen. IBM Lotus Software, wie Lotus offiziell heisst, wird dazu auch Kollaborationsfunktionen wie Diskussionsdatenbanken oder Kalender-Module als Web-Services anbieten. In der im Juli veröffentlichten Technical Strategy and Domino Developer's Roadmap stellt IBM aber auch klar, dass es in erster Linie um die Öffnung von Lotus Domino für eben diese Web-Services gehen wird. Die zusätzlichen Module sieht Fischbacher als Verbreiterung der Plattform für die Groupwarefunktionalitäten der klassischen Notes/Domino-Infrastruktur.
Genau darauf zielt auch der Ansatz der "contextual collaboration", mit der IBM den Schritt von der Groupware zur Middleware machen möchte. Mit dieser "contextual collaboration" sollen computergestützte Funktionen der Zusammenarbeit, wie sie Lotus Notes von Beginn an geprägt haben, nicht mehr so sehr als eigenständige Anwendungen, sondern im Kontext von Geschäftsprozessen angeboten werden. Mit welcher Anwendung und wo auch immer ein Benutzer arbeitet, soll er auf diese Kollaborationsfunktionen zugreifen können. Er soll ein Diskussionsforum von Lotus Domino dann ebenso nutzen wie beispielsweise eine Online-Diskussion über Lotus Sametime starten können.
Dazu braucht es einerseits die Serverplattform, auf der solche Kollaborationsdienste angeboten werden, andererseits aber auch eine einfach zu nutzende Schnittstelle, wie sie die Web-Services darstellen. Den Weg in Richtung Application Server für kollaborative Anwendungen hatte Lotus dabei schon mit dem R5 eingeschlagen - in der neuen Version wird er nur konsequent weitergegangen.
Allerdings wirft ein solcher Ansatz die Frage auf, ob und wie es denn mit dem Notes-Client weitergeht. Denn Domino-Anwendungen werden zunehmend Java- und Webanwendungen. Und in einer Welt der "contextual collaboration", in der Domino Kollaborationsdienste in andere Anwendungen hineinliefert, braucht man eigentlich auch keinen Client mehr. IBM wird dennoch nicht müde, auch die Zukunft des Clients zu betonen, so wie Patrick Fischbacher, der sagt "Es geht definitiv weiter mit Notes und Domino."
Es spricht aber vieles dafür, dass es auf lange Sicht gesehen eher mit Domino denn mit Notes weitergehen wird. Für die nächsten ein oder zwei grossen Releases gibt es aber auch für Lotus Notes als Client eine Zukunft. Denn all die Notes-basierenden Anwendungen, die schon fast Legacy-Status haben, und ihre Rolle als vollständiger Mail- und Groupware-Client, lassen keinen schnellen Abschied zu. Entwicklungen wie Lotus iNotes Web Access und Lotus iNotes for Outlook machen aber deutlich, dass es hier mehr und mehr Alternativen geben wird. In einer - noch fernen - Zukunft eines Lotus Domino als Server für Web-Services oder, wie man auch sagen könnte, als Middleware für die Kollaboration, wird es irgendwann kein Lotus Notes mehr brauchen. Das aber wird noch einige Jahre dauern.
Denn Lotus Domino R6 stellt erst einen kleinen Schritt in Richtung Web-Services dar. Noch lassen sich die Funktionen nicht ohne erheblichen Entwicklungsaufwand als Web-Service nutzen. Verbessert wurden einerseits die Java-Schnittstellen und andererseits die XML-Unterstützung. Damit kann man nun beispielsweise über einen WebSphere Application Server Funktionen von Lotus Domino auch als Web-Service bereitstellen. Integrierte Web-Services fehlen aber noch. Lotus Domino R6 ist eben nicht mehr als ein Schritt in diese Richtung. IBM Lotus Software entwickelt unter dem Codenamen NextGen an der eigentlichen Web-Service-Plattform, mit der Funktionen von Lotus Domino, Sametime, Quickplace und anderen Produkten in standardisierter Form über Web-Services nutzbar werden.
Die Öffnung in Richtung auf Java, XML und Web-Services ist bei Lotus Domino R6 aber spürbar. Mit LotusScript können nun die XML-Schnittstellen ebenso genutzt wie Java-Klassen aufgerufen werden. Für Entwickler wird der Schritt von der vertrauten Welt der Formelsprache und der einfachen, Visual-Basic-ähnlichen Skripts erleichtert. An diesen Erweiterungen wird aber auch das Dilemma deutlich, in dem IBM Lotus ebenso wie viele Nutzer von Lotus Domino stecken. Die "neuen" Anwendungen in einer Welt, die von Java, XML und Web-Services geprägt ist, unterscheidet sich fundamental von jenen, mit denen die meisten Notes-Entwickler vertraut sind. Die Ausrichtung auf Java, die schon bei Domino R5 spürbar wurde, wird immer deutlicher. Lotus Domino R6 ist in erster Linie ein spezialisierter Anwendungsserver im J2EE-Umfeld für kollaborative Anwendungen und daneben ein Messaging- und Groupware-Server. Wer diesen Weg mit IBM gehen möchte, muss auch die entsprechenden Skills in der Programmierung aufbauen.
IBM will, wie schon eingangs erwähnt, den Schritt zu Domino R6 und dem IBM WebSphere Application Server als ergänzende Infrastruktur-Plattform unter anderem durch attraktive Bundles und Lizenzierungsoptionen schmackhaft machen. Für Unternehmen, die bereits auf Microsoft Exchange oder Novell's GroupWise setzen, gibt es mit "move to Lotus" darüber hinaus schon heute ein interessantes Programm für den Umstieg. Lotus bietet hier "äusserst attraktive Spezialkonditionen, welche signifikant unter dem Listenpreis liegen", so Patrick Fischbacher. Zudem können bestehende Kunden von Lotus mit einem PPA-Vertrag auch im Rahmen der Maintenance auf die neue Version R6 umsteigen und die erweiterte Funktionalität des Produkts nutzen.
Ob es IBM Lotus aber so schnell gelingen wird, die Kunden zum Umstieg auf Domino R6 und zum Einstieg in die Welt der "contextual collaboration" zu bewegen, bleibt abzuwarten. Das Produkt ist zwar konsequent weiterentwickelt worden. Gerade in grösseren Unternehmen sind die Zeiträume für einen Release-Wechsel von Standard-Software heute aber üblicherweise sehr lang. Und noch nutzen viele Kunden Lotus Notes/Domino vor allem als Mail-Server.
Die Möglichkeit, leistungsfähige Anwendungen zu entwickeln, wird oft nicht genutzt. Und bis Kunden, die heute Groupware nur in den Grundzügen einsetzen, den nächsten Schritt zur Integration dieser kollaborativen Funktionen in Geschäftsprozesse und Anwendungen machen, wird noch einige Zeit ins Land gehen. Lotus Domino R6 ist ein interessantes Produkt - aber bevor man umsteigt, sollte man sich erst Gedanken darüber machen, welche Rolle es zukünftig in der IT-Strategie spielen soll. Dann erst macht das Investment Sinn. Die "contextual collaboration" ist dabei eine logische Evolution, aber eher ein Fernziel denn der nächste Schritt für die meisten Anwender.