Editorial

Der RFID-Hype


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/18

     

IBM investiert 250 Millionen Dollar in seine RFID-Sparte. Der US-Detailhandelsriese Wal Mart wiederum zwingt seine Zulieferer, ab 2005 Paletten mit RFID-Tags auszustatten. Und erste Schulen in den USA und
Japan verlangen angeblich von ihren Schülern, RFID-Tags zwecks Überwachung der Präsenzzeiten mitzuführen: Wer schwänzt, löst
eine SMS an die Eltern aus.
Im Zentrum der «Radio Frequency Identification»-Technik stehen Chips, die Daten drahtlos senden und empfangen können und die dafür nötige Energie aus den Funkwellen der Lesegeräte beziehen. Ein RFID-Zukunftsszenario: Wer einen Pullover kauft, muss diesen an der Kasse nicht mehr zeigen, da sie den Preis vom RFID-Etikett drahtlos ausliest. Zu Hause erkennt die Waschmaschine das erforderliche Waschprogramm anhand des Funketiketts automatisch. Geht der Kunde später mit dem Pullover in einen anderen Kleiderladen, kann der Verkäufer die Kleidergrösse des Kunden via Handheld drahtlos vom Pullover abfragen. Und selbstverständlich auch die Preisklasse.





RFID ist keineswegs nur ein Thema der Automations-, Handels- und Logistikbranche. Jede IT-Publikation berichtet inzwischen darüber, was nicht erstaunt, erfordern Techniken wie RFID doch neue Anwendungen und damit neue IT-Investitionen. Das dürfen und wollen sich Anbieter wie Sun, SAP, Microsoft, HP oder eben auch IBM nicht entgehen lassen. Derweil heizen Studien, wonach etliche Einzelhandelsfirmen in Europa dieses oder spätestens nächstes Jahr RFID einführen, die Diskussion weiter an.
Wer sich selbst noch nicht mit dieser Technik auseinandergesetzt hat, sollte allerdings nicht verzagen: Allzuviele der Prognosen und Visionen über RFID erweisen sich schon jetzt als überoptimistisch; oft ist dabei der Wunsch Vater des Gedanken. Das beginnt schon bei der Überschätzung des Stands der Technik: Da die RFID-Tags ihre Energie einzig aus dem Funksignal des Abfragegeräts beziehen, muss es stark sein. Wird es durch andere, dazwischenliegende Waren, Metall oder Flüssigkeiten geschwächt, wird der RFID-Chip nicht aktiv und kann nicht ausgelesen werden. RFID funktioniert darum nur auf kurze Distanz.






Selbst wenn eine Abfrage funktioniert, muss eine Anwendung mit ihr umgehen können. RFID-Lesegeräte führen ihre Abfragen mehrmals in der Sekunde durch, erzeugen also eine immense Datenflut. Deren Qualität ist oft miserabel: So zeigen Erfahrung aus diversen Pilotprojekten, dass durchaus ein Drittel der Tags, die an einem Leser vorbeigeführt werden, nicht korrekt erfasst werden. Andere Tags in der Nähe führen zu zusätzlichen Störungen. Dagegen ist die heute in der Logistik meist verwendete Barcode-Technik gut eingespielt.





Auch Kosten von 50 Rappen oder mehr pro RFID-Tag sind ein Problem, müssen sie doch zuerst eingespielt werden. Der Preis mag für teure Waren oder Paletten bezahlbar sein, doch der Einsatz im Kaufhausregal wird über Jahre eine Illusion bleiben. Kommt hinzu, dass es bisher kaum jemanden gibt, der mit RFID tatsächlich Einsparungen, höhere Effizienz oder einen anderen erfolgreichen Business Case vorweisen kann. Schlimmer noch: Die euphorischen RFID-Zukunftsvisionen haben zu erheblichen Datenschutz- und Sicherheits-bedenken in der Bevölkerung geführt. Manche davon sind zwar aus technischer Sicht heute ebenso unrealistisch wie die befürchteten Missbräuche, sind aber ernstzunehmen. Denn dass die RFID-Technik ein hohes Nutzenpotential hat und eines Tages an breiter Front zum Einsatz kommen wird, bezweifelt an sich niemand. Darum wäre es falsch, sie nicht aufmerksam zu beobachten. Wer sich allerdings heute in Projekten mit dem konkreten Einsatz von RFID befasst, leistet vor allem Pionierarbeit.




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