Module für Flexibilität und Praxis
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/12
Im Frühjahr 2000 wurde das Konzept zur Strukturierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Informatik veröffentlicht. Als zuständige Organisation und Trägerin der Umsetzung wurde dazu die Genossenschaft Informatik Berufsbildung Schweiz I-CH gegründet. Für die Informatik Grundbildung (Berufslehre Informatiker/Informatikerin) und für die höhere Berufsbildung (eidgenössischer Fachausweis und Diplom) wurde ein umfassender Modulbaukasten entwickelt, der die relevanten Kompetenzen von Informatik-Berufsleuten in modularen Bildungseinheiten enthält.
Der ursprüngliche Anlass für diese Berufsbildungsreform war freilich ein anderer: Es ging vor allem darum, die Zahl gut ausgebildeter Informatikerinnen und Informatiker rasch und markant zu erhöhen. Damit wollte man der steigenden Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften besser gerecht werden. Von der allgemeinen konjunkturellen Baisse, die 2001 einsetzte, war dann die Informatik-Branche in einem Ausmass betroffen, das die quantitativen Ziele rasch in den Hintergrund treten liess.
Zu diesem Zeitpunkt war die erste Pilotgeneration der modularisierten Berufslehre mit über 50 Prozent der neuen Lehrverhältnisse bereits unterwegs (Start August 2001). Die Pilotkantone Bern und Zürich, beide flächendeckend, zogen unter Einsatz beträchtlicher personeller und finanzieller Mittel den Reformkarren uneigennützig voran. Sie stützten damit die Informatik-Berufsbildungsinitiative massgeblich, deren Impuls- und Finanzgeber das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) war (Lehrstellenbeschluss 2, Projektabschluss Ende 2004). Mit den Pilotkantonen Genf, Luzern, Neuenburg und Tessin waren von Anfang an auch kleinere Kantone dabei und - was dem Projekt eidgenössische Dimensionen gab - die Entwicklung wurde in allen Landesteilen und in drei Sprachen gleichzeitig vorangetrieben.
Die modularisierte Informatik Grundbildung beruht im Wesentlichen auf drei Grundsätzen:
konkreter Kompetenzerwerb durch stufengerechte Vermittlung und Überprüfung,
handlungsorientierte Didaktik, das heisst anwendungsbezogene Vermittlung der Informatik Bildung,
hoher Praxisbezug mit laufender Überprüfung der Module am tatsächlichen Bedarf der Praxis.
Stufengerechter konkreter Kompetenzerwerb heisst, dass in jedem Modul, das an der Berufsfachschule oder in einem überbetrieblichen Kurs unterrichtet wird, die konkrete vollständige Handlung im Zentrum steht, die es im Beruf auszuüben gilt. Mit der Gliederung des Modulbaukastens in Kompetenzfelder (zum Beispiel Business Engineering, Service Management, System Management, etc.) und Niveaus (1 bis 4 für die Lehre, 5 für den Fachausweis, 6 für das Diplom) wird der Kompetenzerwerb transparent und für alle Beteiligten nachvollziehbar.
Der Wandel in der Vermittlung von Kompetenzen hin zur handlungsorientierten Didaktik lässt sich an verschiedenen Entwicklungen ablesen. So ändert sich beispielsweise die Rolle der Lehrkräfte: Stärker gefragt sind Unterrichtsformen, die dem Tun der Lernenden mehr Gewicht beimessen, soziale Kompetenzen fördern und bewusst vom Naheliegenden zum Grundlegenden führen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass der Lernweg sich stärker als bisher an der beruflichen Tätigkeit ausrichten soll. Das setzt voraus, dass der Praxisbezug mit der Entwicklung des Berufs Schritt hält. Hier kann das modulare System seine Stärke besonders gut ausspielen: Es steht nicht mehr der Inhalt der ganzen Lehre zur Diskussion; einzelne Module werden dann angepasst, wenn dafür aus der Sicht der Arbeitswelt Bedarf besteht.
Im Vergleich zum Reglement aus dem Jahr 1994 fällt auf, dass der Informatikunterricht im Entwurf zur neuen Bildungsverordnung mit mindestens 800 Lektionen (bisher mindestens 520, effektiv meistens mehr) während der vierjährigen Lehrzeit an Bedeutung zulegt. Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass die Allgemeinbildung darunter leiden würde: So besucht zum Beispiel ein erheblicher Teil der Informatik-Lernenden die Berufsmaturitätsschule. Und - bisher einzigartig: Das Fähigkeitszeugnis erhält nur, wer sämtliche Qualifikationsbereiche, also auch die Allgemeinbildung, mindestens mit einer genügenden Fachnote abschliesst.
Eine besondere Herausforderung in der Grundbildung liegt in der Breite und Tiefe des Berufs. Es war von Anfang an klar, dass es nur ein Fähigkeitszeugnis geben soll. Der Lösungsvorschlag besteht mit Bezug auf die Breite des Berufs darin, dass alle Lernenden aus einem vorgegebenen Katalog von 16 grundlagenbezogenen Modulen mindestens 12 aus mindestens 6 Kompetenzfeldern durchlaufen müssen. Die Verantwortung für deren Auswahl liegt bei der zuständigen kantonalen Behörde, die dabei die örtlichen Rahmenbedingungen und insbesondere den regionalen Arbeitsmarkt berücksichtigt.
Die Vertiefung kann in verschiedenen Schwerpunkten (Applikationsentwicklung, Support und Systemtechnik) erfolgen, möglich ist auch eine generalistische Ausrichtung. Dafür existieren Vorgaben aus dem Entwurf zur neuen Bildungsverordnung. Sie zeichnen sich durch mehr Flexibilität als die bisherige Regelung aus. Zuständig für die Angebote sind auch hier die Kantone.
Natürlich stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Bildung künftig im Lehrbetrieb haben wird. Da der Verordnungsentwurf festhält, dass über die ganze Dauer der beruflichen Grundbildung mindestens drei Tage pro Woche für die Bildung in beruflicher Praxis vorzusehen sind, ist davon auszugehen, dass der Stellenwert der Bildung im Lehrbetrieb gleichbleibend hoch bleibt.
Ein besonderes Merkmal wird sein, dass auch die Bildungsmodelle mit schulisch organisierter Grundbildung (Informatikmittelschulen, Privatschulen) klare Vorgaben erhalten: So beträgt hier beispielsweise der minimale Anteil von Bildung in beruflicher Praxis ein Bildungsjahr (ungefähr 220 Tage Vollzeit oder entsprechend länger in Teilzeit) in einem Lehr- oder Praktikumsbetrieb.
Was die inhaltlichen und formalen Vorgaben betreffend Bildung in beruflicher Praxis betrifft, ist der Verordnungsentwurf moderat formuliert. Mit der erprobten Abschlussarbeit als individuelle praktische Arbeit ist wie bisher Gewähr dafür geboten, dass eine Qualifikation direkt am Ort der Bildung in beruflicher Praxis nachgewiesen werden muss.
Im übrigen postuliert der Verordnungsentwurf für die Bildung in beruflicher Praxis explizit Prozessorientierung und Auftragssteuerung. Damit wird unterstrichen, dass sich die Bildung im Lehr- oder Praktikumsbetrieb an den real zu erfüllenden Aufträgen ausrichtet. Die Lernenden erhalten durch ihren Einsatz in den produktiven Arbeitsprozessen Gelegenheit, Handlungskompetenzen zu erwerben, einzuüben und zu vertiefen.
Die Genossenschaft I-CH ist daran, einen Leitfaden für die Bildung in beruflicher Praxis zu entwickeln und eine Auftragsdatenbank aufzubauen. Sie soll anhand praktischer Beispiele die Bildungsverantwortlichen in ihren Aufgaben unterstützen. Im Vordergrund steht das Fördern und Unterstützen guter Praxisbildung im Sinne von "good practices" und weniger das Einfordern oft als formalistisch empfundener Vorgaben.
Für ein vorläufiges Fazit sind die Erfahrungen aus den Pilotversuchen massgebend. Zwei Evaluationsberichte und die Erfahrungen der Pilotkantone bei der Harmonisierung der bestehenden Module legen nahe, dass diese Berufsbildungsreform anspruchsvoll ist. Ausserdem stösst sie auf Akzeptanz bei den Beteiligten. Sicher wurde der Aufwand am Anfang klar unterschätzt, und ebenso sicher sind weitere Verbesserungen möglich und nötig.
Mit der Modularisierung wird die Informatik Grundbildung praxisnaher, transparenter und in gutem Sinne auch flexibler. Was zuerst als Initiative gestartet wurde, um den Mangel an Informatikerinnen und Informatikern quantitativ zu beseitigen, zeichnet sich nun zunehmend durch den klaren Anspruch an steigende praxisorientierte Berufsbildungsqualität aus. Die Schweiz dürfte mit der Informatik-Berufsbildung zu den ersten Ländern gehören, die das Modularisierungskonzept für einen Beruf konsequent auf allen Stufen umsetzen.
Mittlerweile steht die vierte Pilotgeneration vor der Tür. Es wird voraussichtlich die letzte sein, weil ab Januar 2005 die gesamtschweizerische Einführung geplant ist. Zu diesem Zweck wurde - aufbauend auf dem neuen Berufsbildungsgesetz - die Bildungsverordnung Informatiker/Informatikerin ausgearbeitet. Sie ist das Werk mehrerer Arbeitsgruppen unter der koordinierenden Leitung des BBT und der erweiterten Projektleitung. Die Vernehmlassung zum Entwurf der Bildungsverordnung ist Ende Mai angelaufen und dauert bis Ende August. Mit der Auswertung der Rückmeldungen und den daraus abgeleiteten Anpassungen wird die Basis für die Umsetzung noch tragfähiger.
Parallel zur Berufslehre wurde übrigens auch die höhere Berufsbildung modularisiert. Im Mai dieses Jahres fanden in der Deutschschweiz erstmals die neuen Schlussprüfungen statt, zu denen zugelassen war, wer vorgängig die elf dafür nötigen Kompetenznachweise erworben und die Praxisvoraussetzungen erfüllt hatte. Rund 1000 Kandidatinnen und Kandidaten stellten sich diesem Leistungstest mit gutem Erfolg.
Ugo Merkli ist Co-Geschäftsleiter der Genossenschaft I-CH, welche die modulare Informatik Berufsbildung entwickelt hat.