VoIP heisst verschiedene Paar Schuhe
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/20
Wenn man mit VoIP-Spezialisten spricht, erscheint alles im hellsten Licht. Die Technologie ist mittlerweile ausgereift. Für eine Studie von Interactive Intelligence befragte Experten der Internet- und Telefoniebranche meinen zu über 80 Prozent, die klassische Telefonie habe bis spätestens 2010 ausgespielt. Die Marktforscher von Ovum prognostizieren bis 2008 allein für Europa ein Volumen von 1,4 Milliarden Dollar. Colt-Deutschland-Chef Wolfgang Essig meint, «Voice over IP ist heute mindestens gut wie ISDN».
Da scheint es dann doch etwas sonderbar, dass Brix Networks, ein Anbieter von Test-Tools für VoIP, eine markant schlechtere Sprachqualität festgestellt hat: Brix hat diesen Sommer rund eine Million Gespräche von Voice-Diensten wie Skype, Google und Yahoo untersucht. Diese PC-to-PC-Voice-Verbindungen werden im Internet immer stärker von datenintensiven Video- und Musik-Downloads konkurrenziert. Ein Mittel, um die Sprachqualität zu verbessern, wäre die Priorisierung des Voice-Traffic. Dies würde jedoch ziemlich sicher dazu führen, dass die Carrier Durchleitungsgebühren erheben. Mit dem Gratis-Telefonieren wäre es dann vorbei.
Minacom, ein kanadischer Konkurrent von Brix, kam übrigens nur einen Monat später zum gegenteiligen Schluss: Die Sprachqualität habe sich deutlich verbessert. Minacom hatte sich auf von Netzdienstleistern bereitgestellte VoIP-Verbindungen konzentriert, wo die Datenpakete weniger stark komprimiert sind und priorisiert werden. VoIP als Privatvergnügen und im professionellen Einsatz sind offenbar trotz gleicher Technologie zwei verschiedene Dinge.
Unternehmen sehen ein Hauptargument für die Umstellung auf VoIP meist in den möglichen Kosteneinsparungen. Dies belegt eine Studie des Technologie- und Outsourcing-Dienstleisters Accenture. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Unternehmen mit VoIP alles in allem rund 30 Prozent besser fahren. Dazu kommt, dass sich die Sprachdaten wie der
E-Mail-Verkehr speichern und verarbeiten lassen. Das Stichwort heisst Unified Messaging.
Der Vorteil: Die Mitarbeiter sind über eine einzige Telefonnummer erreichbar, egal ob sie an ihrem eigenen Schreibtisch arbeiten oder eine Niederlassung besuchen. Sobald sie sich über einen PC angemeldet haben, erreichen sie sowohl Telefonanrufe wie E-Mails am aktuellen Ort. Anrufweiterleitung oder Konferenzschaltungen werden über ein webbasiertes Management-Programm eingerichtet. Das erleichtert bei der Neueinstellung von Mitarbeitern oder beim Umzug einer ganzen Abteilung die Administration erheblich. Für Unternehmen fällt all dies ins Gewicht.
Dennoch konnten sich, wie Forrester Research schreibt, nur wenige Firmen als reine VoIP-Anbieter positionieren. Sie haben wenig Chancen, den etablierten Telefongesellschaften die Marktführerschaft streitig zu machen, so das Fazit einer ganz Westeuropa umfassenden Studie. Um preislich mitzuhalten, haben die grossen Telcos Flatrate-Tarife eingeführt, und immer öfter greifen sie die VoIP-Anbieter mit VoIP-Diensten, DSL-Paketen und erweiterten Servicefunktionen auf deren eigenem Gebiet an.
In Norwegen, schreibt Forrester, habe diese Entwicklung innerhalb von nur neun Monaten zum Untergang von 20 reinen VoIP-Anbietern geführt. Unternehmen wie Sipgate, Telio, Gossirtel und Vonage würden kaum in der Lage sein, als unabhängige Unternehmen zu überleben, und die Investoren von Skype hätten Glück gehabt, dass sie vor der Konsolidierungsphase von eBay übernommen wurden.
Wie alle, die mit ihren Untersuchungen nicht nur auf Unternehmenslösungen abstellen, sondern auch das Verhalten der privaten Nutzer untersuchen, ist Forrester eher skeptisch. Siebzig Prozent der Europäer wüssten gar nichts über Voice-over-IP – und nur ein Prozent nutze VoIP ausgiebig für Gespräche von zu Hause aus, schreiben die Marktforscher. 2010 werde VoIP etwa 30 Prozent des Festnetzmarktes einnehmen, doch selbst 2020, so die Vorhersage, werde VoIP noch keine 100 Prozent Marktanteil erreichen. Die herkömmliche Telefonie bleibt uns also bis auf weiteres er-
halten.
Manche Analysten machen die eingeschränkte Verbreitung von Breitband- und Kabelanschlüssen dafür verantwortlich. Doch dies kann nicht der einzige Grund sein, wie die Situation in der Schweiz zeigt. Hierzulande kommen auf 100 Einwohner – wohlgemerkt: nicht Haushalte – überdurchschnittlich viele schnelle Internetzugänge, nämlich 26. Dennoch hat die Zahl der Festnetzanschlüsse der Swisscom in den letzten Jahren praktisch nicht abgenommen. Noch immer sind 3,8 Millionen Abonnenten, davon 2,9 Millionen Privathaushalte, an das klassische Festnetz angeschlossen.
Die Telefonangebote der Kabel–anbieter nutzen zurzeit erst knapp über 200’000 Schweizer Haushalte. Die Zahl der sogenannten «Digital Phones» steigt aber trotzdem allmählich an. Den Ausschlag geben dabei Kunden von Kabelnetzbetreibern, die vermehrt ein Gesamtpaket mit Voice, Digtital-TV und Internet buchen.
Diese Tendenz ist weltweit festzustellen. So berichtet der britische Marktforscher Point Topic in seinem neuesten IP-Telephony-Report, dass Ende 2005 weltweit 18,7 Millionen Privatanwender VoIP-Telefone nutzten, verglichen mit 10,3 Millionen zu Beginn des Jahres.
«Rechnet man die von Skype und anderen offerierten PC-to-PC-VoIP-Dienste hinzu, erhöht sich die Zahl auf knapp 24 Millionen, was einem Zuwachs von 64 Prozent entspricht», erklärte Point-Topic-Analyst John Bosnell. Bei dieser Entwicklung lägen Japan, Frankreich und die USA an vorderster Stelle.
Das Consulting-Unternehmen Deloitte schrieb kürzlich, dass der Festnetzanschluss immer öfter primär als Zugang zum Internet über DSL und ADSL verstanden wird, während sich die Sprachtelefonie immer mehr auf den Mobilfunk verlagert. Und schon sieht der Verband der deutschen Internetwirtschaft auch hier VoIP auf dem Vormarsch: 58 Prozent der befragten Mitglieder sind der Meinung, dass dank der Standardisierung der VoIP-Technologie Smartphones, die Voice-Dienste, Internet und E-Mail verbinden, schon bald zu alltäglichen Begleitern würden.
Dafür reicht das UMTS-Netz allerdings nicht aus. Die Hoffnungen liegen auf der nächsten Generation der Mobilfunknetze, CDMA2000 Revision A in den USA und 3G LTE in Europa. Laut einer neuen Studie von Analysys könnten damit bis 2015 in Westeuropa 23 Prozent aller VoIP-Gesprächsminuten via Mobilfunknetz abgewickelt werden. In den USA werden 2010 Umsätze von 18,6 Milliarden Dollar und in Westeuropa 7,3 Milliarden Dollar erwartet. Das ist deutlich mehr, als nach den Prognosen dannzumal im Festnetz mit VoIP umgesetzt werden soll – hier ist von 11,9 Milliarden Dollar in den USA respektive 6,9 Milliarden in Europa die Rede. Die Experten glauben allerdings, dass sich mobiles VoIP vor allem in Unternehmen und weniger beim Privatkunden durchsetzen wird.
Bei VoIP wird die Sprache digitalisiert und in Form komprimierter, einzelner Datenpakete verschickt. Da diese Pakete, wie mit dem Internet-Protokoll üblich, verschiedene Wege nehmen können, kommen sie nicht unbedingt in der richtigen Reihenfolge beim Empfänger an und müssen hier neu zusammengesetzt werden. Die dabei entstehenden Verzögerungen können die Sprachqualität stark beeinflussen.
Grundsätzlich gilt daher: Je weniger die Pakete komprimiert werden und je besser sie gegenüber dem restlichen Netzverkehr priorisiert werden, desto besser die VoIP-Qualität.
Eine Umfrage bei CIOs und CTOs hat ergeben, dass 60 Prozent der Befragten die Kosten von VoIP nur schwer einschätzen können. Um keine finanziellen Überraschungen zu erleben, sollten Unternehmen vor einem Umstieg auf VoIP ein paar grundlegende Überlegungen anstellen:
· Wie ist der Netzanschluss des Unternehmens beschaffen? Welche Bandbreiten stehen zur Verfügung und wie kann die Servicequalität sichergestellt werden?
· Ist die Hardware für Backups oder Failover-Szenarien vorhanden? Reichen die Kapazitäten für SIP-Load-Balancing? Sind mit der gewählten Lösung Updates und Hardwareveränderungen möglich, ohne das gesamte System herunterzufahren?
· Der Domino-Effekt: Von einer VoIP-Implementierung sind meist auch andere Systeme betroffen, die eventuell aktualisiert oder erneuert werden müssen. Die letzten Endes kostengünstigste Methode ist die Integration des neuen Voice-Systems in die bestehende Collaboration- und Messaging-Plattform.
· Bei der Implementierung muss die IT-Sicherheit berücksichtigt werden. Oft werden zusätzlich benötigte Security-Massnahmen nicht in die Kosten der VoIP-Installation eingerechnet. Branchenexperten rechnen mit bis zu 40 Prozent Zusatzkosten für Session Border Controller für den NAT-Verkehr, Flow Control und Absicherung des Media Channel.
· Mangelnde Skalierbarkeit der VoIP-Lösung kann bei einer späteren Ausweitung die Kosten in die Höhe treiben, wenn zum Beispiel statt einer Abteilung neu alle Mitarbeiter im Unternehmen mit VoIP versorgt werden sollen. Die Installation sollte deshalb von Anfang an auf spätere Erweiterungen hin ausgelegt sein.
Amerikanische Regierungsstellen warnen, dass VoIP zwar Vorteile biete, aber auch Sicherheitsrisiken berge, deren Gefahrenpotential noch zu wenig gesehen wird. VoIP-Systeme kombinierten die Sicherheitsrisiken der IP-Welt und diejenigen der traditionellen Telekommunikation.
Auch das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik machte kürzlich in einer Studie darauf aufmerksam, dass VoIP-Gespräche mit weit verbreiteten und einfach zu bedienenden Werkzeugen abgehört werden können. Auch für den Ethernet-Sniffer «Etherreal» gebe es bereits Plug-ins zur Auswertung von SIP- und H.323-Daten, wie sie bei VoIP-Verbindungen verwendet werden.