Im Juni 2009 sorgte
Microsoft an der Spielemesse E3 mit dem Project Natal, das später als Kinect in den Verkauf kam, für grosses Aufsehen. Besitzern einer Xbox 360 wurde es damit erstmals möglich, Software alleine durch Körperbewegungen zu bedienen. Inzwischen versteht sich der Sensor auch mit Windows-Rechnern und man hört immer wieder von interessanten, neuen Einsatzszenarien.
So etwas wie die Weiterentwicklung von Kinect ist die Datenbrille Hololens, die von Microsoft im Januar 2015 erstmals präsentiert wurde und deren zugrundeliegende Technologie als die Zukunft der Computerinteraktion angesehen wird.
Seite Ende März liefert Microsoft erste Hololens-Brillen aus. Momentan kann die 3000 Dollar teure sogenannte Development Edition allerdings erst von Entwicklern aus den USA und Kanada bestellt und getestet werden. Entsprechend schwierig ist es für Interessierte aus Europa, an ein Gerät zu kommen und es auszuprobieren. Es gibt aber bereits Brillen, die es in die Schweiz geschafft haben. Gian Paolo Santopaolo, Software-Architekt beim Schweizer Softwarehersteller
IBV und Microsoft Most Valuable Professional (MVP), ist es durch gute Kontakte in den USA beispielsweise gelungen, eine Hololens Development Edition in die Schweiz zu holen.
IBV hat sich die Brille angeschafft, um auszuloten, was damit alles möglich ist und möglich wird. Und man hat bereits ein konkretes Projekt: Die erst kürzlich fertig entwickelte Software Collaboration Hub, die auf kleinen und auf sehr grossen Multitouch-Geräten wie dem Surface Hub von Microsoft läuft, soll in Zukunft auch mit der Hololens funktionieren. Da es sich dabei um eine Windows 10 Universal App handelt, läuft sie auf der Brille wie alle anderen solchen Anwendungen im Prinzip eigentlich schon, allerdings ohne 3D-Attribute und damit nicht so, wie man sich das vorstellt. Dafür ist noch etwas Entwicklungsarbeit nötig.
Ganze Hardware und Akku stecken in Brille
Im Mai hatte "Swiss IT Magazine" in den Büros von
IBV im zürcherischen Bonstetten die Gelegenheit, die Hololens von
Microsoft an einem Nachmittag auf Herz und Nieren zu prüfen – in freier Wildbahn sozusagen und ganz ohne Aufseher aus Redmond, wie das bisher bei den meisten Demos der Fall war oder ist.
Bevor der Test starten konnte, gab es durch Microsoft MVP Santopaolo eine kurze Einführung. Dabei erklärte er die wichtigsten Gesten, die man zur Bedienung unbedingt kennen muss. Mit einer "Bloom" genannten Geste, für die man die Hand erst zusammenballt und dann direkt wieder öffnet, ruft man beispielsweise das Startmenü auf. Eine weitere wichtige Geste ist der "Air Click", den man mit dem Zeigefinger ausführt und der von der Bewegung und der Funktion her eigentlich nichts anderes ist als ein Klick auf die linke Maustaste – nur halt in die Luft, weil man keine Maus hat. Das wichtigste Navigationswerkzeug ist aber der Kopf. Mit den Bewegungen des Kopfs steuert man nämlich den Cursor und gibt die Richtung vor.
Santopaolo nahm uns dann auch noch die Angst vor Übelkeit oder Schwindel. Bei der Hololens handelt es sich nämlich um ein Mixed-Reality-System, bei dem die reale Welt um virtuelle Elemente erweitert wird. Man taucht also nicht in eine komplett virtuelle Welt ein wie bei Virtual-Reality-Systemen anderer Hersteller und kann sich jederzeit orientieren. Zudem muss man auch keine Angst haben, sich entweder an einem Pult das Bein oder an einer Wand den Kopf zu stossen, vielmehr baut Hololens diese Elemente sinnvoll mit in das Erlebnis ein, wie wir später erfahren durften.
Auch um Kabel, über die man stolpern oder an denen man sonst wie hängen bleiben könnte, muss man sich mit der Hololens nicht kümmern. Im Gegensatz zur Oculus Rift oder der HTC Vive hat Microsoft nämlich die komplette Hardware in die Brille gepackt, inklusive Akku. Man braucht damit keine Verbindung zu einem High-End-Rechner, der für die nötige Rechenleistung und den nötigen Saft sorgt.
Herzstück der Hololens ist die sogenannte Holographic Processing Unit (HPU), die es überhaupt erst möglich macht, all die Informationen, die die Datenbrille sammelt, in Echtzeit zu verarbeiten und Realität sowie Fiktion verschmelzen zu lassen.
Steuern mit dem Kopf und speziellen Gesten
Die Hololens bringt alles in allem fast 600 Gramm auf die Waage und fühlte sich während dem Kalibrieren, das ein paar Minuten dauerte und vor der ersten Nutzung zwingend notwendig ist, ziemlich schwer an. Als wir dann in die holografische Welt eintauchten, war das Gewicht aber schnell vergessen. Erst nach dem Test bemerkten wir, dass die Brille doch etwas stark auf die Nase drückte und einen ziemlichen Abdruck hinterliess. Offenbar sass sie nicht optimal, denn eine spezielle Halterung sollte eigentlich dafür sorgen, dass das Gewicht, das vor allem vorne liegt, von der Nase genommen wird.
Nach dem erfolgreichen Kalibrieren erkundeten wir die ersten Apps für Hololens und fanden uns überraschend schnell zurecht. Für jemanden, der etwas technikaffin ist und keine Berührungsängste hat, ist die Nutzung der Datenbrille von
Microsoft ein Kinderspiel – wenn er vorgängig bei den Gestenerklärungen gut zugehört hat.
Was zu Beginn etwas Mühe bereitete, war, dass nicht die Hand den Cursor bewegt, sondern wie erwähnt der Kopf. Es nützt also nichts, wenn man die Hand in eine Ecke bewegt und dann dort einen Air Click macht, was wir immer wieder versuchten. Auch Augenbewegungen alleine genügen nicht, man muss wirklich den Kopf mit bewegen. Die Air Clicks und die Bloom-Geste hatten wir hingegen nach ein bisschen Übung ganz gut im Griff und das System reagierte, wie übrigens auch sonst, sehr akkurat und schnell auf unsere Bewegungen, was uns spätestens beim Spielen von Roboraid zu Gefallen wusste.
Für den First-Person-Shooter wird mit der Brille zuerst das ganze Büro abgescannt. Ähnliches ist vor der ersten Nutzung auch bei vielen anderen Anwendungen nötig und macht es möglich, dass Roboter sich dann beispielsweise durch die Bürowand schiessen und wir sie mit unserer Laserkanone vom Himmel holen oder selber Bürowände und Türen durchlöchern können. Wollten wir das nicht alle schon einmal? Links, rechts, unten, oben: Die Roboter griffen von überall an und wäre noch eine Büro-pflanze in der Ecke des Büros von
IBV gestanden, dann hätten sie sich vermutlich auch noch dahinter versteckt.
Spiele wie Roboraid zeigen sehr eindrücklich das Potential, das in der Hololens steckt, obwohl Microsoft an seiner Entwicklerkonferenz Build im März betont hat, dass man mit der Datenbrille zuerst in Unternehmen Fuss fassen will und Gamer nicht im Vordergrund stehen. Schade, denn uns gefiel das Abschiessen der bösartigen Roboter eigentlich ganz gut, fast besser als das Basteln von eigenen Hologrammen, was mit der App Holostudio möglich ist.
Grafisch ist Roboraid verglichen mit aktuellen Konsolentiteln wie zum Beispiel "Uncharted 4: A Thief’s End" übrigens noch keine Offenbarung. Oder anders gesagt, die Entwickler haben noch Potential, falls die Hardware momentan überhaupt mehr zulässt.
Nach Peru, in den Weltraum und zurück
Nach Roboraid sind wir mit Holotour nach Südamerika gereist. Diese App ist etwas für Leute mit Fernweh, die gerne neue Länder und Kulturen virtuell kennenlernen möchten. So wanderten wir beispielsweise kurz in Peru herum. Boden und Wände, alles um uns herum, wurde von der Holoens verwandelt und man konnte sogar mit der Umgebung interagieren, sprich Elemente bewegen und Geschichten lauschen oder sich ganz einfach zurücklehnen und beobachten, was geschieht.
Auch bei Holotour ist grafisch sicher noch mehr möglich, sie könnte für unseren Geschmack noch etwas schärfer beziehungsweise realer werden. Zudem haben wir beim Nutzen dieser App das momentan doch noch recht eingeschränkte Sichtfeld, das bisher bereits von vielen Hololens-Testern bemängelt wurde, wahrgenommen. Gerade bei etwas schnelleren Kopfbewegungen ist man schnell aus dem rechteckigen Sichtfeld heraus und blickt nicht mehr auf eine tolle Inka-Ruinenstadt, sondern ins langweilige Büro. Daran muss Microsoft sicher noch arbeiten.
Die integrierten Lautsprecher wussten derweil zu überzeugen und die verschiedenen Anweisungen, Töne und andere Sounds waren auf unserem Kurztrip in Peru tiptop zu hören. Die Hololens bietet sogar einen Raumklang, das heisst man kann Hologramme überall im Raum hören, auch hinter einem. In unserem Test ist uns dies aber nicht speziell aufgefallen. Dafür haben wir festgestellt, dass es in der Umgebung nicht zu laut sein sollte, wenn man die Datenbrille gerade für Apps wie Holotour nutzt, wo viel gesprochen wird. Zusätzlich zur Brille könnte man aber auch noch Kopfhörer aufzusetzen, einen Anschluss dafür gibt es.
Noch etwas weiter als die App Holotour geht die Anwendung Holoportaiton, an der bei Microsoft Research derzeit gearbeitet wird. Dank einer neuartigen 3D-Auf- nahme-Technologie soll es damit in Zukunft möglich werden, qualitativ hochwertige, virtuelle 3D-Modelle von Menschen in Echtzeit an andere Orte auf der Welt zu schicken. Mixed-Reality-Geräte wie die Hololens sollen diese 3D-Modelle dann sichtbar machen und sogar eine Interaktion mit ihnen ermöglichen. Leider konnten wir diese Art des Reisens und Kommunizierens noch nicht testen.
Nach der Erkundungstour in Peru wagten wir uns mit der Galaxy Explorer App dafür in den Weltraum. Und erst als wir uns wie die Erde um die Sonne drehten, fiel uns auf, dass man die Hololens nicht nur in einem abgedunkelten Raum mit Wänden nutzen kann, sondern ganz normal in jedem Büro, auch in einem mit einer grossen Fensterfront. Die Brille passt die Helligkeit dank einem Umgebungslichtsensor automatisch an, zudem kann man sie, wie übrigens auch die Schärfe, manuell nachstellen. Bei direkter Sonneneinstrahlung, was wir aufgrund des miserablen Wetters an unserem Testnachmittag leider nicht simulieren konnten, dürfte aber auch die Hololens an ihre Grenzen stossen.
Zum Teil stellten wir während dem Test auch ein leichtes Flackern fest. Das kann aber damit zusammenhängen, dass wir ab und zu Fotos und kurze Videos aufgenommen haben – man will ja schliesslich ein Andenken an seine ersten Schritte in der holografischen Welt von
Microsoft. Möglich sind solche Aufnahmen dank einer eingebauten Kamera sowie einer sogenannten Mixed-Reality-Capture-Technologie.
Holografisches Surfen mit Edge-Browser
Schliesslich haben wir uns auch noch eine ganz normale und Windows-10-Nutzern bestens bekannte App angeschaut, nämlich den Browser Edge. Mit der Hololens kann man irgendwo im Raum ein Browser-Fenster öffnen und drauf los surfen. Dieses Fenster kann man in der Grösse beliebig verändern, wie übrigens auch alle anderen holografischen Elemente, die man in einen Raum zaubert. Dazu bewegt man den Cursor in eine Ecke, vollführt einen Air Click, hält und zieht. Das klappte bei uns nicht auf Anhieb, wie übrigens auch das Scrollen auf unserer holografischen Website, was ebenfalls gelernt sein will.
Die Bedienung des Browsers kann
Microsoft also noch vereinfachen. Allerdings dürfte gerade diese Anwendung vermutlich nicht im Zentrum der Entwicklung steht. Dafür sah die Website von "Swiss IT Magazine", die wir nicht etwa speziell für Hololens optimiert hatten, einwandfrei aus. Alles funktionierte wie auf einem PC. Um ins Internet zu gelangen, braucht die Brille übrigens eine WLAN-Verbindung, einen Mobilfunk-Chip hat Microsoft bis jetzt noch nicht eingebaut.
Wer will, kann anstelle der gerade im Edge-Browser vielleicht etwas umständlichen Bedienung mit den verschiedenen Gesten auch Sprachbefehle nutzen. Das klappte in unserem Test ganz gut, wobei momentan erst englischsprachige Befehle unterstützt werden. So kann man zum Beispiel "Next" sagen, um in den Einstellungen einen nächsten Menüpunkt aufzurufen, und muss nicht erst den Kopf zum entsprechenden Button drehen und einen Air Click vollführen.
Zum Teil mussten wir einen Befehl zwar mehrmals geben, bis es klappte, aber die Spracherkennung – übrigens ist auch Cortana mit an Bord – ist sicher eine sinnvolle Ergänzung. Und wer sich letztendlich auch darüber ärgert: Im Lieferumfang der Hololens Developer Edition findet man noch einen Clicker, der anstelle eines Air Click in die Hand genommen und zum Klicken, Auswählen, Scrollen oder Halten genutzt werden kann.
Akku hält bis zu fünf Stunden
Unsere Zeit mit der Mixed-Reality-Brille verging wie im Flug. Auf einmal war es schon 17:00 Uhr und unser Hololens-Test fand ein jähes Ende. Der Akku, der liesse problemlos noch mehr zu und zeigte nach anderthalb Stunden immer noch über 60 Prozent an. Nach Erfahrung von Gian Paolo Santopaolo hält er bei intensiver Nutzung zwischen drei und fünf Stunden, das kommt also etwa hin. Der
Microsoft MVP hat sich zur Sicherheit aber trotzdem noch ein hosentaschengrosses Akkupack eines Drittherstellers gekauft, das er via den Micro-USB-Port an der Brille und ein mitgeliefertes Kabel anschliessen kann und so die Hololens sogar während dem Gebrauch laden kann.
Übel oder schwindlig wurde uns während dem ganzen Test wie versprochen nie – und auch danach nicht. Auf dem Nachhauseweg nach Zürich machte sich dann aber eine gewisse Müdigkeit bemerkbar und wir mussten vor allem unsere durch die vielen Eindrücke vermutlich etwas überanstrengten Augen etwas ruhen lassen. Stellt sich also nur die Frage, wann die Hololens endlich auch in der Schweiz zu haben sein wird. Die Antwort darauf kennt man momentan wohl selbst bei Microsoft nicht. Bis es soweit ist, steht interessierten Entwicklern seit Ende März aber zumindest ein Emulator zur Verfügung, um holografische Anwendungen auf dem PC ohne Brille testen können. Aber natürlich ist es viel spannender, real und nicht virtuell in die Mixed-Reality-Welt einzutauchen.
Fazit: Virtual Reality ist derzeit in aller Munde. Microsoft geht mit der Hololens und dem Mixed-Reality-Ansatz bewusst einen eigenen Weg. Ob er ans Ziel führen wird, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Die Development Edition funktioniert, erste Anwendungen zeigen das Potential, doch gibt es heute schon Unternehmen, die genau auf ein solches System warten? Denn als Spielzeug will Microsoft die Brille nicht positionieren. Vielleicht ist es darum gar nicht schlecht, wenn die Entwicklung noch etwas dauert. So hat man auch genug Zeit, Dinge wie das derzeit doch noch sehr eingeschränkte Sichtfeld zu verbessern. Und bestimmt kriegt man auch den Preis und das Gewicht noch runter. Eindrücklich ist derweil schon heute, was Microsoft im Gegensatz zur Konkurrenz im VR-Bereich alles in die Brille zu packen vermag und dass man ganz ohne separaten High-end-PC, Kabel und weiteres Zubehör auskommt.
(mv)