Schaut man auf den ERP-Markt, könnte man meinen, in den letzten Jahren hätte sich ein wahres Feuerwerk an Innovationen gezündet. Manche nüchterne Zeitgenossen konstatieren zumindest eine Schlagwortlawine. Bevor man nun anfängt, sich über die neuen Themen im Spannungsfeld zwischen Innovation und Schlagwort Gedanken zu machen, ist es sicher sinnvoll, sich über die Gründe im Klaren zu werden. Dabei muss man feststellen, dass der ERP-Markt ein harter Markt ist. Die «Goldenen Zeiten» wo vom Rheintal bis zur Rhone an allen Ecken und Enden neue, voll integrierte ERP-Systeme eingeführt wurden, sind längst vorbei.
Pressemitteilungen à la «Grosskonzern entscheidet sich für ABC-ERP» hatten lange Zeit gereicht, und die Sektkorken waren den wirklich grossen Geschäften vorbehalten. Doch die Zeiten haben sich geändert. Gesamteinführungen gibt es fast gar nicht mehr, und für ganze ERP-Suiten ist der Bedarf gedeckt. Heute sind die Themen komplizierter und differenzierter geworden: Nun geht es um die Einführung einer Reisekostenabrechnungssoftware auf Basis von Smartphones oder um die Optimierung von Containerbeladungen im Fernostgeschäft und schon lange nicht mehr «ums ganze Unternehmen». Damit sinken auch die Margen, gleichzeitig werden die Themen eher komplizierter. Die Zeiten, wo man mit Junior-Beratern im ERP-Einführungsgeschäft Geld verdienen konnte, sind definitiv vorbei. Womit wir schon beim ersten Trend wären: Kleinere Projekte und höhere Anforderungen an die Beratung dominieren das Geschäft.
Die Krux mit neuen Technologien
In Zeiten sinkender Umsätze und Margen ist es wichtig, dem Analystenmarkt Perspektiven zu bieten. Womit wir beim Schlagwort-Engineering wären. Dieses «Schlagwort-Engineering» ist sicher der aktuelle Megatrend schlecht hin. ERP-Anbieter müssen immer stärker für Schlagzeilen sorgen. Da die klassischen Kunden-Erfolgsgeschichten immer weniger zur Verfügung stehen, stürzt man sich auf echte und vermeintliche Innovationen und kreiert immer neue Schlagworte, die man dann wieder dezent beerdigt. Können Sie sicher erinnern – vor zwei Jahren war alles «SMAC» – sozial mobil, analytisch und in cloudigen Wolken. Das «S» wurde mittlerweile dezent beerdigt – die Storyline vom Social-Media-Phanömen zum biederen ERP war für viele doch zu wagemutig.
Nun sind die vielen im Moment angepriesenen Innovationen per se nicht schlecht und auch nicht unbrauchbar. Die in aller Regel suggerierte Gleichung «neue Technologie = mehr Geschäft» stimmt leider nur in begrenztem Masse – wobei hier erstmal die ERP-Anbieter gemeint sind. Für die Anwenderunternehmen ist die Gleichung noch abwegiger. So würde der Autor den Umsatz mit Cloud-basierten Lösungen bei einem der grössten ERP-Anbieter in der Schweiz bei maximal einem Prozent einschätzen. Natürlich kann man bei solchen Gesamtmengenverhältnissen auf der relativen Seite schnell von zweistelligen Wachstumsraten prahlen. Nur – die absoluten Zahlen verweisen gerade die Cloud in die Nische – damit lässt sich ein am Markt etablierter Anbieter weder finanzieren noch kann er signifikant Gewinn machen. Es gehört zu den eher ernüchternden Feststellungen der letzten Jahre, dass viele technologisch innovative Unternehmen und neue Geschäftsmodelle kaum wirklich nachhaltig Gewinn erwirtschaften.
Alt und neu unter einem Hut
Womit wir beim dritten Trend sind: Das Geschäft wird noch immer mit klassischen Themen und Technologien gemacht – dies gilt sowohl für Anbieter wie für Anwender. ERP-Systeme gleichen dabei im Kern heute einem Technologiemuseum. Den Kern der meisten Systeme bildet Code, der im Laufe der 80er- und 90er-Jahre entstanden ist. Dabei muss man konstatieren: Das, was da tagtäglich genutzt wird, ist gar nicht schlecht – oder – um es positiv zu formulieren – ist ziemlich gut. Kein Grund zur Panik also für die Anwenderunternehmen: Gerade etablierter Software-Code hat heute seine absolute Daseinsberechtigung. Dies zeigt ganz deutlich eine Grafik aus der ERP-Zufriedenheitsstudie von i2s: Eine Abhängigkeit der Zufriedenheit von ERP-Anwendern mit ihren Systemen in Abhängigkeit des Alters beziehungsweise des Installationsdatums lässt sich nicht feststellen. Gleichzeitig zeigt die Grafik ganz deutlich, dass die Zufriedenheit mit steigender Aktualität des letzten Release-Wechsels wächst.
Die Statistik zeigt damit einen der eher «versteckten» Trends und auch zentralen Aufgaben von ERP-Anbietern auf: Wichtig ist es, ERP-Systeme auch mit einem «alten» (ich möchte bewusst nicht von «veraltetem») Kern weiterhin jung und fit zu halten. Wird dies gut gemacht, ist es möglich, ein ERP-System mit einem Kerncode von vor zwei oder mehr Dekaden mit neuesten Technologien und Oberflächen für den Anwender zugänglich zu machen und attraktiv zu halten. Ein gutes Beispiel sind hier moderne Mobilitätstechnologien, über die letztlich «uralte» Funktionen einfach einer grossen Anzahl von dezentralen und mobilen Anwendern zugänglich gemacht werden. Dieses «technologisch hybride ERP» ist an sich wiederum ein Megatrend.
ERP-Kompetenz im Visier
Damit wird auch eine der wichtigsten Aufgabenstellungen für das Management auf Seiten der Anwenderunternehmen klar: Es ist wichtig, mehrfach hybride Systemlandschaften mit einem «klassischen Funktionalitätskern» technologisch und integrativ fit zu halten. Letztlich geht es darum, den Anschluss nicht zu verpassen, wobei kein Zwang besteht, immer auf die neuesten Technologien zu setzen oder gar komplette Ablösungen anzustreben. Für Anwenderunternehmen heisst das aber auch, die eigene Führungskompetenz im ERP-Bereich nicht zu verlieren. Hier haben sich in den vergangenen Jahren mehrere, eher negative Trends ergeben, die den ERP-Bereich quasi in den Zangengriff nehmen: Viele Unternehmen haben sich mehr als gesund geschrumpft und verfügen über sehr wenige interne Know-how-Träger. In vielen Fällen wurde einfach zu viel Wissen «geoutsourct».
Gleichzeitig wurden gerade im ERP-Bereich Investitionen immer stärker heruntergeschraubt, und viele IT-Leiter und ERP-Verantwortliche feiern die investitionsarmen Jahre mittlerweile wie Jubiläen. An letzter Stelle steht die «IT doesn’t matter»-Kultur auf den Führungsetagen vieler Unternehmen. Man möchte IT zwar nutzen, aber etwas davon verstehen, möchte man dann doch gerade nicht. Dieser mehrfache Trend hin zu weniger Investitionen und zu Desinteresse ist durchaus gefährlich. Ein wenig kann man ihn mit dem «Frosch-Herdplatte-Phänomen» vergleichen und möchte den Verantwortlichen quasi zurufen «investiert endlich». Im Nebensatz muss man dann ergänzen: «Aber bitte nicht in Trends sondern in nachhaltige Innovationen.» In diesem Sinne bleibt auch im EPR-Bereich eine alte Grundweisheit bestehen: Trends sind nicht zwingend Innovationen, und was eine Innovation ist, zeigt sich immer nur im Anwendungskontext des eigenen Unternehmens.
Eric Scherer ist Geschäftsführer des anbieterunabhängigen ERP- und Prozess-Beratungsunternehmens I2s Consulting sowie Lehrbeauftragter an der ETH Zürich.